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Fällt Euch denn nichts besseres ein?
Kritik an populärer und oberflächlicher Schulkritik und Pseudo-Alternativen
Viele Menschen sind damit, wie Schule zur Zeit organisiert ist, nicht
zufrieden. Um Schule zu verbessern, schlagen sie vor, Unterrichtsausfall
zu bekämpfen, mehr junge Lehrer einzustellen, die Klassengrößen
zu verringern, insgesamt mehr Geld für das Bildungswesen auszugeben,
die Schulkonferenz zu einem Drittel mit Schülern zu besetzen, diskutieren
darüber, ob das Abitur nach 12 oder 13 Jahren abgelegt werden soll,
fordern, Noten durch andere Bewertungsformen zu ersetzen, wollen das dreigliedrige
Schulsystem zugunsten der Gesamtschule abschaffen oder Themen wie Demokratie,
Ökologie und Feminismus in die Lehrpläne aufnehmen.
Wir möchten zeigen, daß diese Vorschläge nicht so fortschrittlich
sind, wie ihre Befürworter glauben. In den hier angesprochenen Bereichen
sind statt quantitativer Veränderungen, die die Grundprobleme des
Bildungswesens verfehlen, qualitative notwendig. Die üblicherweise
vorgeschlagenen Änderungen erscheinen uns daher oft mehr oder weniger
unerheblich. Wir wollen uns diesen Forderungen aber auch deshalb nicht
anschließen, weil sie uns entweder zu undifferenziert sind, nicht
ausreichen oder aber auf einem falschen Ansatz beruhen und kaum zu einer
Verbesserung des Bildungswesens beitragen.
1. Mythos: Problemlösung 'Weniger Unterrichtsausfall'
2. Mythos: Problemlösung 'Mehr junge Lehrer'
3. Mythos: Problemlösung 'Mehr Lehrer für kleinere
Klassen'
4. Mythos: Problemlösung 'Mehr Geld fürs Bildungswesen'
5. Mythos: 'Demokratisierung durch Drittelparität in
der Schulkonferenz'
6. Pseudo-Alternative: 12 oder 13 Schuljahre bis zum Abitur
7. Mythos: Problemlösung 'Zensuren durch schriftliche
Berichte o.ä. ersetzen'
8. Mythos: Problemlösung 'Ganztagsschule'
9. Mythos: Problemlösung 'Gesamtschule als einzige Schule'
10. Mythos: Problemlösung 'Ökologie, Feminismus,
Demokratie und andere gesellschaftliche Themen in die Lehrpläne'
1. Mythos: Problemlösung 'Weniger Unterrichtsausfall'
Sind ausfallende Unterrichtsstunden wirklich das zentrale Problem in der
Bildungspolitik?
Unterrichtsausfall zu beklagen heißt, nur zu kritisieren, daß
das System nicht einwandfrei arbeitet. Die Machtposition des Lehrers,
Zensuren, Werteerziehung usw. - all das wird nicht hinterfragt, obwohl
es nicht zu einer demokratischen Schule paßt.
Unterrichtsausfall wäre nur dann schlecht, wenn Unterricht in jedem
Fall etwas Gutes wäre. Aber vor allem für Schüler, die
überhaupt kein Interesse an einem konkreten Thema oder Fach haben
- und deshalb auch praktisch nichts davon behalten werden -, gibt es kaum
gute Gründe, etwas gegen Ausfall zu haben. Jede Freistunde vermindert
die Zeit, die man mit sinnlosen, ätzenden Aufgaben verbringen muß
und von Lehrern kontrolliert und bewertet wird.
Ausfallende Stunden verschaffen Freiräume, die man individuell nutzen
kann, zum Beispiel, um sich mit Leuten zu treffen und über Politik
zu diskutieren, Sachen zu lernen, die einen wirklich interessieren, interessante
Gespräche zu führen, ein tolles Buch zu lesen, oder auch sich
einfach mal zu entspannen. In vielen Fällen dürften einem diese
Aktivitäten deutlich mehr bringen als der Unterricht.
Gründer alternativer Schulen und Schulkritiker machen schon seit
Jahrzehnten darauf aufmerksam, daß Lernen nur zu einem sehr geringen
Anteil durch Unterrichtetwerden stattfindet. Man darf einfach Lernen nicht
mit Unterricht verwechseln. Niemand braucht Unterricht, um Laufen, Sprechen,
Fahrrad fahren oder mit einem Stadtplan umgehen zu lernen. Und wie man
mit einander umgeht, alltägliche Probleme löst, usw., lernt
man auch nicht durch Unterricht. Unterricht ist also nur eine Form des
Lernens; und ob sie die bessere ist, kann nur jeder Schüler selbst
entscheiden.
Solange es Tests und Zensuren gibt, ist Unterrichtsausfall ein Problem.
Denn Leistung wird trotzdem abgefragt, und für den gleichen "Stoff"
stehen weniger Stunden zur Verfügung. Also steigt der Zeitdruck.
Und Schülern, die tatsächlich durch den Unterricht etwas lernen
wollen, wird das Recht auf Bildung beschnitten.
Daß Unterrichtsausfall eindeutig schlecht ist und verhindert werden
muß, kann man erst dann sagen, wenn niemand mehr gezwungen wird,
Unterricht zu besuchen, der ihn nicht interessiert.
2. Mythos: Problemlösung 'Mehr junge Lehrer'
Durch mehr junge Lehrer wird das System nicht besser. Auch sie müssen
den Unterrichtsstoff durchziehen, Tests schreiben lassen, Zensuren verteilen,
die Schüler dazu bringen, Dinge zu lernen, die diese nicht wollen bzw.
von denen sie nicht wissen, wozu sie gut sein sollen, usw.
Vielleicht sind junge Lehrer etwas umgänglicher, da sie sich noch ganz
gut an ihre eigene Schulzeit erinnern können und den Schülern
vielleicht manches ersparen wollen, und ihr Unterricht ist noch nicht zur
Routine erstarrt, sondern sie denken sich noch manchmal neue Sachen aus.
Aber natürlich können auch junge Lehrer ungerecht und arrogant
sein. Genauso müssen alte Lehrer keineswegs altmodisch sein. Es kommt
auf die Person an, nicht aufs Alter.
Darüber hinaus sollten Schulen auch so konzeptioniert sein können,
daß auch Schüler Kurse oder Projekte selber anbieten. Diese Schüler
wären dann besonders junge Lehrer.
In einer demokratisierten Schule, wie wir sie uns wünschen, wird über
Personalfragen demokratisch von Schülern und Lehrern der jeweiligen
Schule entschieden. Dabei werden sie beim Einstellen neuer Mitarbeiter auch
Aspekte wie Frische und Erfahrung diskutieren. Schüler und bisherige
Lehrer können dann selbst entscheiden, welche Mischung sie wollen.
3. Mythos: Problemlösung 'Mehr Lehrer für kleinere
Klassen'
Zunächst einmal halten wir die - zumindest für den Zeitraum bis
zum Ende der 10. Klasse - sehr verbreitete Idee für überholt,
daß alle das gleiche Programm vorgesetzt bekommen und - ob es ihnen
etwas bringt oder nicht - mitmachen müssen, und daß somit überhaupt
eine feste Schulklasse besteht, die dann also auch in jedem Unterrichtsfach
die selbe Größe hat.
Gibt es statt starrer Klassen viele einzelne Kurse - auch mit Schülern
verschiedenen Alters -, aus denen sich jeder seinen Unterricht zusammenstellt,
muß man die Frage nach der geeigneten Größe nicht mehr
pauschal für alle Unterrichtsfächer zusammen, sondern je nach
Charakter des Kurses beantworten.
Derzeit ist der Unterricht großteils eine Selbstdarstellungsshow.
Man soll dem Lehrer ständig Dinge sagen, die er längst weiß
und die ihn auch kaum wirklich interessieren. Von dieser Selbstdarstellung
hängt derzeit jedoch die Zensur für den "mündlichen
Teil" entscheidend ab. Und je weniger andere Schüler in der Klasse
bzw. dem Kurs sind, desto mehr Zeit zur Selbstdarstellung bekommt jeder
einzelne. Wer hingegen im Unterricht nicht auffallen will (um z.B. nicht
an die Tafel kommen zu müssen bzw. zu einer mündlichen Leistungskontrolle
herangezogen zu werden), hat es bei kleinen Klassen schwerer. Der Zwang
zur Selbstdarstellung zwecks guter Note ist aber ein Problem, das man am
besten auf grundsätzlicher Ebene beseitigt.
Kleine Klassen/Kurse sind eigentlich nur in zwei Fällen wichtig:
1. Wenn man Fragen hauptsächlich an den Lehrer richtet.
Wenn der Lehrer individuell helfen soll, z.B. indem er Rückfragen beantwortet,
sind große Klassen eher hinderlich, weil für jeden einzelnen
Fragesteller weniger Zeit zur Verfügung steht.
Dürften sich allerdings Schüler - anders als heute - auch gegenseitig
Dinge erklären, käme es gar nicht so zu dem Problem, da nicht
alle den Lehrer fragen würden. Und oft ist es auch leichter, sich etwas
von einem Mitschüler erklären zu lassen, da er sich auf einer
ähnlichen Verständnisebene befindet und die eigenen Schwierigkeiten
besser nachvollziehen kann. Und der Mitschüler merkt dabei gleich,
ob er selbst es wirklich verstanden hat.
2. Wenn nur für eine begrenzte Zahl von Teilnehmern die materiellen
Ressourcen vorhanden sind.
Das ist z.B. der Fall bei wissenschaftlichen Experimenten, für die
Hilfsmittel wie Gasbrenner, Mikroskope, Geigerzähler, Elektrobaukästen
usw. benötigt werden. Oder wenn jeder Schüler einen eigenen Computer
braucht, im Sportunterricht jeder das gleiche Gerät bzw. Spielfeld
benutzen muß, sowie bei Ausflügen.
Auch Diskussionen sind in großen Gruppen schwieriger, da nur wenige
zu Wort kommen. Allerdings können bei mehr Teilnehmern auch mehr verschiedene
Ansichten eingebracht werden, weil die Wahrscheinlichkeit größer
ist, daß Vertreter bestimmter Minderheitenmeinungen dabei sind. Es
kommt darauf an, welchen Charakter die Diskussion haben soll.
Für manche Arten von Unterricht ist es hingegen völlig egal, wie
groß die Klasse ist. Wenn der Unterricht den Charakter einer Uni-Vorlesung
hat - die Person vorne also nur redet oder eine Präsentation abhält
-, sind 35 Schüler überhaupt kein Problem. Es könnten genauso
gut 200 sein.
Sind die Schüler damit beschäftigt, etwas durchzulesen, ein Video
anzusehen oder Aufgaben zu lösen, ist die Gruppengröße ebenfalls
nicht von Bedeutung, jedenfalls solange genug Bücher / Kopien / Aufgabenblätter
vorhanden sind. Dann ist es höchstens eine Frage der Ruhe und der Größe
des Raumes bzw. der Akustik.
Für obengenannte Engpaß-Aktivitäten könnte man eine
Klasse / einen Kurs auch vorübergehend teilen, wie es auch bei allen
möglichen Kongressen üblich ist.
Wie inzwischen klar geworden sein dürfte, sind wir nicht grundsätzlich
gegen kleine Klassen. Wir meinen nur, daß sie gar nicht immer notwendig
sind und die pauschale Forderung nach kleinen Klassen deshalb einfach undifferenziert
ist.
Aber selbst wenn man kleinere Kurse anstrebt, braucht man dazu nicht
unbedingt mehr Lehrer als heute, sondern kann sogar mit deutlich weniger
Lehrern auskommen. Es hängt im wesentlichen wohl von der Rolle der
Lehrer und dem Mengenverhältnis von Unterricht zu anderen Lernformen
ab.
Lernen findet schließlich bei weitem nicht nur in Klassen/Kursen
statt. Einen großen Teil dessen, was Menschen lernen, lernen sie
ohne Unterricht. Eine Schule, in der dies Beachtung findet ist die Sudbury
Valley School, eine demokratische Schule in der Nähe von Boston (Massachusetts,
USA), in der Schüler und Mitarbeiter wirklich gleichberechtigt sind,
niemand zum Lernen gezwungen wird und jeder Schüler seinen Tagesablauf
vollständig selbstbestimmt. Die Schüler dort beschäftigen
sich die meiste Zeit selbst und ziehen Mitarbeiter nur gelegentlich zu
Rate. Kurse spielen beim Lernen nur eine kleine Nebenrolle und finden
nur statt, wenn Schüler dies ausdrücklich verlangen. Wenn dann
mal ein Kurs zustande kommt, ist er deshalb immer ziemlich klein. 12 Schüler
in einem Mathekurs sind schon viel. Und da Unterricht nur einen kleinen
Teil der Aktivitäten an Sudbury Valley ausmacht, sind kleine Gruppen
kein Problem - auch wenn die Schule bei 220 Schülern nur 11 Mitarbeiter
(Lehrer) hat. (In traditionellen Schulen ist das Verhältnis eher
1 : 12.)
Schulen brauchen also nicht pauschal viele bzw. mehr Lehrer, sondern das
hängt von der Art der Schule ab. Und auch kleinere Klassen sind nur
begrenzt von Bedeutung.
4. Mythos: Problemlösung 'Mehr Geld fürs Bildungswesen'
Natürlich muß Bildung ausreichend finanziert und müssen
Bildungseinrichtungen ausgestattet werden. Aber macht mehr Geld die Schule
wirklich besser? An dem, was Schule für viele Schüler so unangenehm
macht, ändert sich dadurch nichts: Fremdbestimmung und Leistungsdruck.
Wenn man mehr Geld fordert, muß man auch sagen, wofür man es
denn eigentlich zu verwenden gedenkt. Wenn das Geld an der falschen Stelle
eingesetzt wird, haben die Schüler auch nichts davon. Und "mehr
Geld" für Schulvergleichsstudien, eine größere Bürokratie,
mehr Pflichtfächer oder sogar Überwachungskameras für den
Schulhof, kurz: für mehr Fremdbestimmung über die Schüler
sind keine Verbesserung.
Daß Schüler nicht auch noch für die ihnen womöglich
verhaßte Schule bezahlen sollen, indem sie etwa Bücher und sonstiges
Material selbst kaufen müssen, ist unserer Meinung nach eine Selbstverständlichkeit.
Der Schulbesuch muß ohne Wenn und Aber kostenlos sein. Bildung darf
nicht den wirtschaftlichen Zwängen des freien Marktes überlassen
werden. Aus der Finanzierung von Bildung darf der Staat sich nicht zurückziehen.
Aber daß er das ganze schöne Geld in so ein miserables Schulsystem
steckt, ist frustrierend.
Für die durchschnittlich rund 10 000 DM, die der Staat jedes Jahr pro
Schüler ausgibt - Freie Schulen kommen oft mit deutlich weniger Geld
pro Schüler aus als staatliche -, könnten wir uns ein viel schöneres
Bildungssystem leisten. Und wenn das Geld dann endlich auf sinnvollere Weise
ausgegeben wird, kann es, wenn nötig, auch gerne noch etwas mehr für
alle sein.
5. Mythos: 'Demokratisierung durch Drittelparität
in der Schulkonferenz'
Anmerkung: In Berliner Oberschulen ist dies bereits umgesetzt. In einigen
anderen Bundesländern, in denen noch die Lehrer die Hälfte der
Stimmen haben, gilt dies aber weiterhin als fortschrittliches Ziel.
Grundsatz der Demokratie ist : Alle Menschen, die von Entscheidungen betroffen
sind, müssen das Recht haben, sich durch Wahlen bzw. Abstimmungen am
Zustandekommen dieser Entscheidungen zu beteiligen. Dabei gilt das Prinzip
"Ein Mensch - eine Stimme". Das heißt, dabei zählt
jede Stimme exakt genauso viel (Gleichheit der Wahl). Jeder Gewählte
vertritt also gleich viele Wähler.
Dieser Grundsatz, der in einer demokratischen Gesellschaft auch für
die Schule gelten muß, ist nicht gewahrt, wenn im höchsten beschlußfassenden
Gremium Lehrer, Eltern und Schüler jeweils ein Drittel der Abstimmungsberechtigten
stellen, obwohl Schüler über 90% der an der Schule tätigen
Menschen sind, Lehrer entsprechend weniger als 10% und Eltern 0%. Im Grunde
ist das nichts anderes als das Drei-Klassen-Wahlrecht, das in Preußen
von 1849 bis 1918 galt. (Damals stand jedem Stand ein Drittel der Parlamentssitze
zu, der 1. Stand umfaßte 4%, der 2. 14% und der 3. die restlichen
82% der männlichen Erwachsenen.)
Demokratisch wird eine Schulkonferenz auch dadurch nicht, daß man
Schülern die Hälfte aller Sitze oder sogar einen mehr als die
Hälfte gibt. Denn auch dann gilt die Stimme eines Schülers immer
noch weniger als die eines Lehrers.
Und da Eltern im Alltagsbetrieb der Schule nicht vorkommen, ist es demokratisch
nicht zu rechtfertigen, daß sie in Gremien der Schule etwas zu suchen
haben sollen. Zwar müssen sie mit dem, was die Schule mit ihren Kindern
macht, fertigwerden, aber mit dieser Begründung könnte man auch
verlangen, daß Männer z.B. ein Mitspracherecht im Betriebsrat
ihrer Frau haben sollen.
Gelegentlich wird auch argumentiert, die Eltern könnten doch gemeinsam
mit den Schülern die Lehrer überstimmen, so daß die Eltern
wichtige Bündnispartner der Schüler seien. Die Erfahrung zeigt
jedoch, wenn es um Veränderungen zugunsten der Freiheit von Schülern
geht, stimmen die Eltern meist gemeinsam mit den Lehrern gegen die Vorschläge
der Schüler. Wenn allerdings jeder an der Schule direkt Beteiligte
eine Stimme hat, sind die Schüler aus eigener Kraft deutlich in der
Mehrheit und somit nicht auf die vermeintliche Hilfe der Eltern angewiesen.
Es stimmt zwar, daß jüngere Schüler ihre Interessen noch
nicht immer so gut und überzeugend formulieren können wie wohlwollende
Eltern dies könnten, doch zum einen können diese Schüler
Unterstützung bei erfahreneren Schülern suchen und zum anderen
entwickeln sie diese Artikulationsfähigkeit recht schnell, wenn sie
wirklich beteiligt sind.
Die Schulen des Sudbury-Typs beweisen, wie gut mit Schülermehrheit
geleitete Schulen verwaltet werden, enschließlich der Finanzen. Der
Beweis durch die Praxis ist erbracht. Schüler, denen die Schulangelegenheiten
nicht wichtig sind oder die sich keine Meinung dazu gebildet haben, enthalten
sich - wie in einer Demokratie üblich - einfach der Stimme.
Außerdem erzielen Regeln und Entscheidungen, über die von allen
Schülern und Lehrern auf demokratische Weise abgestimmt wurde, eine
höhere Akzeptanz als von oben aufgedrückte.
6. Pseudo-Alternative: 12 oder 13 Schuljahre bis zum Abitur
Es ist verständlich, daß man unter den Umständen, wie Schule
derzeit organisiert ist, dort möglichst nicht so viele Jahre verbringen
möchte.
Kürzere Zeiten bis zum Abschluß sind aus unserer Sicht durchaus
sinnvoll, wenn der Leistungsdruck dabei nicht größer und das
Recht auf Bildung nicht beschnitten wird.
Bei der derzeit diskutierten Variante der Verkürzung auf 12 Jahre sehen
wir allerdings folgende Nachteile: Die Forderung des Abiturs nach 12 Jahren
wird gewöhnlich zusammen mit der Forderung erhoben, daß das Abitur
wieder "etwas wert sein" müsse und "nicht an jeden verschenkt"
werden dürfe, das Abitur also schwieriger und für insgesamt weniger
Schüler erreichbar werden soll. Eine Variante besteht darin, Unterricht
straffer durchzuziehen und stärker auf direkt überprüfbares
Faktenwissen zu konzentrieren. In der anderen bleibt die Menge des Unterrichtsstoffs
voll erhalten und auch die Anzahl der Unterrichtsstunden bis zum Abitur
bleibt unverändert, so daß auf jeden Schüler durch das eingesparte
Schuljahr drei bis vier Stunden mehr Unterricht pro Woche zukommen, zzgl.
Hausaufgaben. Dadurch wird der Schulalltag noch stressiger und der Leistungsdruck
größer. All das deutet sehr in Richtung Paukschule, und das ist
nicht die von uns angestrebte Richtung.
Wir finden die Möglichkeit, das Abitur nach weniger als 13 Jahren zu
machen, aber durchaus gut. Es geht uns dabei allerdings nicht darum, Geld
im Bildungssektor einzusparen, indem bundesweit ein paar Hunderttausend
Schüler weniger in Umlauf sind, oder darum, daß die Menschen
möglichst frühzeitig in das Erwerbsarbeitsleben eintreten.
Zu dem Vorwurf, die hiesigen Ausbildungszeiten seien im europäischen
Vergleich zu lang: In Frankreich z.B. bekommt man sein Abitur zwar prinzipiell
nach 12 Jahren, aber mehr als 60% der Schüler müssen im Laufe
der Schulzeit mindestens ein Schuljahr wiederholen. Außerdem steht
ein Großteil dessen, was in Deutschland Stoff der gymnasialen Oberstufe
ist, in z.B. Frankreich und Großbritannien erst an den Hochschulen
im Lehrplan, so daß die Schüler in diesen Ländern nicht
wirklich schneller sind.
Dennoch wirkt der von linken Parteien und Organisationen sowie Schülervertretungen
geführte Kampf ums 13. Schuljahr befremdlich auf uns.
Wir halten es nicht für sinnvoll, die Schüler zu zwingen, erst
eine bestimmte Anzahl von Jahren (z.B. 13) in der Schule zu verbringen,
bevor sie ihre Prüfung machen können. Der Abschluß soll
doch besagen, was man weiß. Aber warum muß man dazu das ganze
Programm durchlaufen haben? Dinge, die man ohne Unterricht bzw. außerhalb
der Schule gelernt hat, müssen genauso zählen. Unterricht soll
nur ein Angebot sein, das man entweder nutzen kann oder auch nicht.
Jeder Schüler soll selbst entscheiden, nach welcher Zeit er das Abitur
ablegen will.
Wir können uns das so vorstellen: In erster Linie ist die Schule ein
Ort, an dem man etwas lernen kann. Je nach Konzeption der jeweiligen Schule
macht man von Kursen Gebrauch, beteiligt sich an Projekten, liest Bücher,
nutzt das Internet, führt Gespräche mit anderen Leuten, usw. In
jedem Fall bestimmt man grundsätzlich selbst, wie man seine Zeit an
der Schule verbringt. Man lernt nach eigenen Zielen. Und wenn man abgehen
will, kann man auch noch an einer Abschlußprüfung teilnehmen.
Oder man absolviert sie schon zwischendurch und nutzt die Schule dann weiter
als Lernort.
Wer will, soll auch 15 Jahre zur Schule gehen können, und wer es eilig
hat, kann auch schon nach z.B. elf Jahren fertig sein und sein Abitur ablegen.
Diese Regelung sollte dann aber nicht nur für das Abitur, sondern für
alle Abschlüsse gelten.
Das wäre dann ähnlich wie an der Uni, wo auch nicht alle Studenten
zum gleichen Zeitpunkt fertig sein müssen, sondern man den selben Studiengang
in neun Semestern beenden kann - oder auch in 14.
Nun mag der Einwand kommen, "15 Jahren Schulzeit, das ist doch unbezahlbar
für den Staat". Aber wenn ein Schüler heute sitzenbleibt,
braucht er auch immerhin 14 oder sogar 15 Jahre. Gleichzeitig würden
viele Schüler die 13 Jahre unterbieten; und - wie praktisch alle Alternativschulen
beweisen -: Es geht auch viel kostengünstiger als bisher üblich.
Aber abgesehen von den obigen Überlegungen, sind Abschlüsse an
sich von zweifelhaftem Wert. Denn Zeugnisse beschreiben nur das (vermeintliche)
Wissen der Vergangenheit. Je älter ein Zeugnis ist, um so weniger sagt
es aus. Der Schüler kann vieles von dem, was er gelernt hatte, wieder
vergessen haben - was gar nicht so selten vorkommt. Er kann sich aber auch
mit Dingen, die er damals tatsächlich nicht gewußt oder verstanden
hatte, inzwischen sehr gut auskennen. Darüber hinaus ist das Wissen
aus der Schulzeit in manchen Bereichen bereits nach wenigen Jahren hoffnungslos
veraltet.
Was also sollen Unternehmen oder Unis mit Zeugnissen anfangen? Eine Lösung
wäre, nicht am Ausgang der Schule zu prüfen, sondern am Eingang
der Uni / des Arbeitsplatzes. Die Eingangsprüfung könnte sich
dann auf die jeweils relevanten Dinge beschränken; alles nicht relevante
bräuchte man dann auch nicht lernen. Die Bedingungen für die jeweils
verschiedenen Eingangsprüfungen müßten natürlich allgemein
öffentlich zugänglich sein.
Falls es jedoch weiterhin Abschlüsse gibt, sollte wenigstens gelten,
daß sie jeder nach einer selbstgewählten Anzahl von Jahren erwerben
kann. Das können im Einzelfall dann auch 12 oder 13 Jahre sein.
Daß solche Verfahren funktionieren können, beweisen die Erfahrungen
von Schulen im Ausland (z.B. der Sands School in England).
7. Mythos: Problemlösung 'Zensuren durch schriftliche
Berichte o.ä. ersetzen'
Daß Zensuren reines Auswendiglernen fördern, zur Beurteilung
unbrauchbar sind, die Macht des Lehrers sichern und Anpassung erzwingen
sowie der Auslese dienen, ist eine wichtige Erkenntnis. Allerdings veranlaßt
dies einige Leute lediglich dazu, Zensuren durch andere Bewertungsformen
ersetzen zu wollen.
Für uns ist die Frage nicht, wie, sondern warum überhaupt bewertet
werden soll.
Da Schule unserer Meinung nach nicht die Aufgabe haben sollte, Schüler
für die Uni oder für das Berufsleben vorzusortieren, bleiben als
mögliche Rechtfertigungen nur noch, daß Bewertung für das
Lernen wichtig sei und daß sie dem Schüler ein Feedback biete.
Zensuren, Lob, Bienchen usw. sollen motivieren, heißt es. Dabei wird
aber völlig übersehen, "daß es einen entscheidenden,
qualitativen, Unterschied zwischen innerer und äußerer Motivation
gibt - zwischen einem Interesse an dem, was man lernt, um dieser Sache willen,
und einer Vorstellung, in der Lernen als ein Mittel zum Zweck gesehen wird,
wobei der Zweck darin besteht, Bestrafung zu vermeiden bzw. eine Belohnung
zu erhalten. Nicht nur, daß diese beiden Orientierungen verschieden
sind, sie wirken oft sogar in entgegengesetzte Richtungen.", schreibt
der amerikanische Autor Alfie Kohn.
Bewertung ist im Grunde Bestechung und Erpressung. Wenn man sich davon beeindrucken
läßt - und das ist ja das erklärte Ziel - wird die Aufmerksamkeit
vom Lerninhalt weg auf die mögliche Belohnung hingelenkt. Das Interesse
am Wissen selbst tritt in den Hintergrund und nimmt ab. Man stellt Kosten-Nutzen-Rechnungen
an: "Wieviel muß ich wissen/tun, um eine gute Zensur zu bekommen?"
Letztendlich sieht man Lernen als etwas an, das man nur gegen Belohnung
bzw. unter Strafandrohung tut, als eine lästige Aufgabe, die man abarbeiten
muß, und bei der man sich nicht mehr Mühe als nötig gibt,
denn das eigentliche Lernen ist unwichtig geworden. Und sobald die Bewertung
wegfällt, hört man auf, sich mit dem Thema zu befassen. Das unter
solchen Umständen erworbene Wissen hält allerdings ohnehin nur
selten länger als bis zum nächsten Test -schließlich hat
man es ja auch nur dafür "gelernt".
Langfristiges, tiefgründiges und nachhaltiges Lernen geschieht nur,
wenn man ein eigenes Interesse, eine eigene Motivation hat.
Wenn man sich selbst das Ziel steckt, daß man etwas bestimmtes lernen
oder eine bestimmte Sache erledigen will, kann niemand anderes einem erzählen,
daß man sein Ziel erreicht habe. Nur man selber kann entscheiden,
wann man mit dem Geleisteten zufrieden ist. Und solange man noch nicht zufrieden
ist, will man weiter daran arbeiten.
Schon deshalb sind wir dafür, Zensuren einfach ersatzlos zu streichen
- und sie nicht durch andere Formen der Bewertung zu ersetzen. Aber es gibt
noch mehr Gründe.
Bewertung setzt Kontrolle voraus, die in jedem Fall ein Eingriff in die
Privatsphäre des Schülers ist. Ob, wann und in welcher Form bewertet
werden soll, soll deshalb nur jeder Schüler selbst entscheiden.
Zeugnisse und Bewertungsdokumente jeder Art ignorieren, daß Menschen
sich auch nach Erhalt ihres letzten Zeugnisses ändern. Dies trägt
dazu bei, daß andere sich Vor- bzw. Fehlurteile anhand des vor Jahren
festgeschriebenen Erscheinungsbildes in der Schule bilden, welches wiederum
keineswegs objektiv ist. Dieser Umstand kann zu einer lebenslangen Brandmarkung
als beispielsweise "leistungsunfähig" führen. Schon
aus Gründen des Datenschutzes, der informationellen Selbstbestimmung,
sind wir gegen Zeugnisse.
Normalerweise merkt man doch, ob man eine Sache schon gut kann, man sich
darin sicher fühlt. In den Fällen, in denen man überhaupt
nicht das Gefühl hat, sich selbst einschätzen zu können,
kann man ja andere fragen, was sie z.B. von den eigenen Singkünsten
oder von der Qualität eines selbstverfaßten Textes halten. Wichtig
ist, daß sich dabei jeder bewußt ist, daß diese Einschätzung
zwangsläufig subjektiv ist, aber man selbst die Ansprüche der
anderen Person nicht teilen muß. Die Äußerung des anderen
ist nicht mehr als eine Meinung!
So läuft das im alltäglichen Leben, und so sollte es auch in der
Schule sein. Wenn ein Schüler ein Feedback haben will, kann er einen
Lehrer oder Mitschüler fragen. Wenn er keines will, sollte er in Ruhe
gelassen werden.
Da dieses Feedback eine persönliche Information des Lehrers (oder auch
eines Schülers) an den Schüler ist, wird sie auch nirgendwo dokumentiert.
Für Zeugnisse gibt es keine Rechtfertigung mehr.
Auch die Eltern können keinen Anspruch auf Zeugnisse über ihre
Kinder haben. Womit sich ein Schüler in der Schule beschäftigt,
muß allein seine Sache sein. Nichtsdestotrotz werden sich viele junge
Menschen freiwillig mit ihren Eltern darüber unterhalten, was sie in
der Schule machen und wie es ihnen dort geht. Welche privaten Dinge sie
anderen mitteilen, bleibt jedoch - nicht nur im Bereich Schule - in jedem
Fall ihre eigene Entscheidung.
8. Mythos: Problemlösung 'Ganztagsschule'
Statt die Belastung zu reduzieren, der Schüler ausgesetzt sind, beschneidet
die Ganztagsschule ihnen die Freizeit. Ganztagsschulen sind in erster Linie
nicht für die Kinder da, sondern für ihre berufstätigen Eltern.
Die Befürworter von Ganztagsschulen wollen, daß Schule nicht
nur ein Ort, an dem Unterricht stattfindet, sondern auch ein Lebensort ist.
Kinder und Jugendliche sollen dort Umgang mit anderen Menschen haben (insbesondere
auch jenen mit Behinderung sowie jenen ausländischer Herkunft), nicht
jederzeit bewertet werden, selbst Entscheidungen treffen und Verantwortung
übernehmen, Freizeitaktivitäten nachgehen und sich wohlfühlen
können - gleichzeitig bleiben sie aber unter der Kontrolle des Personals.
Durch die genannten Möglichkeiten sei die Ganztagsschule ein Beitrag
zu Integration und Chancengleichheit, fördere Kreativität, Selbstbewußtsein,
Kooperation, friedliche Konfliktlösung und Toleranz, und entspreche
somit in höherem Maße als herkömmliche Schulen den Anforderungen
der modernen Welt.
Im wesentlichen gibt es zwei verschiedene Modelle der Ganztagsschule. In
der "offenen Ganztagsschule" findet der Unterricht wie bisher
am Vormittag und Mittag statt. Danach werden bis 16 Uhr verschiedene Projekte
und Arbeitsgemeinschaften angeboten. Die Teilnahme daran ist für die
Schüler freiwillig.
Bei der "gebundenen Ganztagsschule" hingegen besteht Anwesenheitspflicht
von 8 bis 16 Uhr. Der Unterricht ist über den Tag verteilt, womit der
Schulalltag vielfältiger gestaltet, z.B. der 45-Minuten-Takt aufgebrochen
werden kann; mit mehr Flexibilität, Ruhephasen, Projekten.
Einige der Motive sind durchaus gut. Aber der Anteil fremdbestimmter Lebenszeit
wird für die Schüler nicht geringer, da der bisherige Pflichtunterricht
in vollem Umfang erhalten bleibt.
Die gebundene Ganztagsschule erhöht sogar noch die Zeit, die junge
Menschen zwangsweise in der Schule anwesend sein müssen. Auch daß
die Schüler zwischen verschiedenen Nicht-Unterrichts-Angeboten auswählen
dürfen, ändert daran nichts, denn außerschulische Angebote
stehen nicht mehr zur Wahl. Der Schüler hat einfach weniger Zeit zur
eigenen freien Verfügung, für völlig selbst gewählte
Aktivitäten. Einige Anhänger der Ganztagsschule sehen dies sogar
als wünschenswert an: Kinder sollen weniger fernsehen und weniger auf
der Straße rumhängen. Während wenigstens ein Teil der Eltern
ihre Kinder vielleicht einfach in Ruhe lassen würde, ist in der Schule
damit nicht zu rechnen, da nach traditionellem Verständnis "Betreuung"
auch immer Kontrolle bedeutet.
Als Folge der gebundenen Ganztagsschule sind die Schüler noch mehr
Zeit mit immer den gleichen Leuten zusammen. Damit gibt es nicht nur weniger
Möglichkeit für Kontakte zu Schülern anderer Schularten (was
das eigentlich angestrebte Zusammenleben mit Schülern unterschiedlichen
Hintergrunds behindert); sondern es gibt auch weniger freie Zeit für
z.B. politisches oder soziales Engagement, und auch für jede andere
Beschäftigung, die nicht von der Schule - und damit letztlich vom Staat
- angeboten wird.
Das, was Ganztagsschulen an selbstgewählten Aktivitäten und sozialer
Interaktion auf den Pflichtunterricht obendraufpacken, können die Schüler
an demokratischen Schulen wie Sudbury Valley den ganzen Tag über tun.
Zugegeben, auch Sudbury Valley ist bis 17 Uhr geöffnet - aber nicht,
um die Schüler länger zu kontrollieren, sondern um ihnen diesen
Ort der Freiheit möglichst lange zur Verfügung zu stellen. Sie
könnten auch nach fünf Stunden wieder gehen, aber vor einer Schule,
die wirklich ihnen gehört, haben sie keinen Grund zu fliehen.
9. Mythos: Problemlösung 'Gesamtschule als einzige
Schule'
Den Auslese-Prozeß des jetzigen dreigliedrigen Schulsystems finden
auch wir ungerecht und deshalb wollen wir auch gar nicht Gymnasium, Real-
und Hauptschule als konkrete Schultypen verteidigen.
Aber was wir auch nicht wollen, ist ein einziger Einheitsschultyp, mit dem
dann alle glücklich werden müssen. Wir wollen statt dessen eine
pluralistische Bildungslandschaft, die allen offensteht. Es gibt sehr verschiedene
Vorstellungen darüber, wie man Lernen sinnvoll organisiert. Und die
lassen sich nicht alle in nur einem einzigen Schultyp zusammenfassen - egal
wie genial und wie offen diese Einheits-Schulform wäre.
Selbst unter den von weitem gesehen einander sehr ähnlichen demokratischen
Schulen, an denen niemand zum Lernen gezwungen wird, gibt es in zentralen
Fragen große konzeptionelle Unterschiede. Während in Summerhill
und an der Sands School Unterricht eine zentrale Rolle spielt und staatliche
Lehrpläne eine wichtige Orientierung sind, gibt es an den Schulen des
Sudbury-Typs keinerlei Lehrplan, und Unterricht nur auf ausdrückliches
Verlangen von Schülern. Trotz gleicher Zielsetzung sind die Modelle
verschieden. Jedes von ihnen ist sehr erfolgreich und hat seine Berechtigung,
und doch lassen sie sich nicht vereinigen, ohne sie zu zerstören.
Auch die verschiedenen Alternativschulen, die es in Deutschland gibt, sollen
weiterbestehen dürfen. Und nicht wenige Schüler wollen unbedingt
Schulen wie heute haben, in denen ihnen ein starrer Lehrplan ohne wesentliche
Wahlmöglichkeiten vorgesetzt wird. Es gibt so immens viele Möglichkeiten,
Schule zu organisieren.
Den Bedürfnissen wirklich aller jungen Menschen gerecht zu werden,
ist nicht möglich, solange es nur vom Staat festgelegte Schultypen
gibt. Keine Verwaltung kann alle möglichen Schulmodelle erdenken. Aber
diejenigen, die täglich von Schule betroffen sind, also vor allem die
Schüler und Lehrer, aber auch Eltern, haben durchaus eigene Ideen,
die sie in selbstgeschaffenen Strukturen umsetzen möchten. Eigeninitiative
darf hier nicht verboten sein.
Das heißt: Einerseits soll der Staat selbst Schulen unterschiedlicher
Konzeption ins Leben rufen, damit z.B. sichergestellt ist, daß jedes
Kind in eine wirklich von Grund auf demokratische Schule gehen kann (bisher
existieren solche Schulen in Deutschland noch gar nicht). Und andererseits
kann es daneben Schulen geben, die nicht vom Staat organisiert sind.
Die nichtstaatlichen Schulen (Schulen in freier Trägerschaft, sogenannte
Privatschulen) würden sich jeweils etwa als gemeinnütziger Verein
organisieren - gemeinnützig, weil Schulen keine Unternehmen sind, deren
Ziel es wäre, Gewinn zu erzielen.
"Privatschulen" sind für uns kein Feindbild. Wenn diese Schulen
allen Menschen gleichermaßen offenstehen, sind sie nichts elitäres.
Sie sind einfach Schulen von unten! Gerade Menschen, die diesem Staat kritisch
gegenüber stehen, müßten dies eigentlich begrüßen.
Da das Geld für all diese Bildungsangebote natürlich weiterhin
vom Staat kommen soll, ist diese Aufhebung des derzeitigen faktischen Staatsmonopols
nicht die so oft befürchtete Privatisierung der Bildung.
Das entscheidende in einem pluralistischen Bildungswesen aber ist, daß
der Schüler selbst entscheidet - und nicht die Eltern oder der Staat
oder gar Vertreter der Wirtschaft -, auf welche Schule er geht bzw. ob er
sich außerhalb dieser Institutionen bildet.
Durch die vollständig staatliche Finanzierung und durch das alleinige
Entscheidungsrecht des Schülers wird sowohl Auslese verhindert als
auch die Einschränkung des Rechts junger Menschen auf Bildung durch
Eltern oder sonst jemanden.
10. Mythos: Problemlösung 'Ökologie, Feminismus,
Demokratie und andere gesellschaftliche Themen in die Lehrpläne'
Selbst wenn man solche Themen wichtig findet, heiligt der Zweck nicht die
Mittel. Und Mittel ist hier die Ausnutzung des Umstandes, daß die
Schüler, an die sich diese Lehrpläne richten, nicht freiwillig
in der Schule sind. Sie werden durch die Schulpflicht zur Anwesenheit gezwungen
und müssen sich anhören, was auch immer man ihnen erzählt.
Sind Schüler denn Objekte, die man, wie es einem gerade paßt,
mit Wissen betanken kann?
Würde man das gleiche mit Erwachsenen machen - würde man Erwachsene
unter Strafandrohung (!) zwingen, sich mit bestimmten gesellschaftlichen
Fragestellungen zu beschäftigen, und sie womöglich dann noch darauf
überprüfen, ob sie sich alles gemerkt haben -, wäre das ganze
mit Sicherheit eine recht befremdliche Aktion, die überhaupt nicht
in eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft paßt. Mit Schülern
aber macht man das.
Der Lehrplan scheint so etwas wie eine Wunschliste zu sein, was alles dem
Kind durch einen Trichter in den Kopf gefüllt werden soll. Das ist
nichts anderes als Indoktrination. Sollte man sich daran wirklich beteiligen
wollen?
Was man allerdings tun kann und sollte, ist, die Instrumentalisierung
des Schulunterrichts für staatserhaltende Zwecke zu beenden. Die
Behauptung, daß es so eine "Staatspropaganda" überhaupt
gibt, bedarf zunächst einiger Erläuterung: Die staatlichen Lehr-
und Rahmenpläne sehen z.Z. vor allem in Fächern wie Geschichte,
Erdkunde, Sozialkunde und Politischer Weltkunde vor, daß der Staat
sich und seine Institutionen ausführlich präsentieren und dabei
in ein ihm genehmes Licht rücken kann. Seine Wahrnehmung von der
Welt bzw. gesellschaftlicher Probleme stellt er dabei als Gegebenheiten
dar. Einzelheiten sind zur Diskussion freigegeben, aber die Fragestellungen
geben die Grundrichtung bereits vor.
Mit den folgenden Beispielen, die den Berliner Rahmenplänen entnommen
sind, wollen wir hier in diesem Text nicht die Diskussion über die
jeweiligen Themen eröffnen, sondern lediglich den in einigen Bereichen
ideologisch geprägten staatszentrierten Charakter des Unterrichts
belegen.
So wird im Fach Erdkunde die Hungerproblematik in der sogenannten Dritten
Welt pauschal dem Bevölkerungswachstum zugeordnet, ohne angemessen
auf Fragen der weltweiten Verteilung von Reichtum einzugehen. Als ein
Lernziel für das Fach Sozialkunde wird formuliert: "Sie [die
Schüler] kennen Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Wirtschaftspolitik
zur Lösung standort-, sozial-, arbeits- und umweltpolitischer Probleme."
Ferner zählen zu den "Lerninhalten" der genannten Fächer
u.a.: "Deutschland als Industriestandort", "Rolle und besondere
Verantwortung Deutschlands im Rahmen der europäischen Integration",
"Wehrhafte Demokratie", "Auftrag der Bundeswehr, Innere
Führung", "Leitbild vom Staatsbürger in Uniform",
"Friedens- und Kriegseinsätze".
Und im Rahmenplan Geschichte/Politische Weltkunde liest man: "Außerschulische
Lernorte wie (...) Angebote der Bundeswehr (...) besitzen besonders für
den Unterricht in zeitgeschichtlichen und aktuellen Themen eine wichtige
und ergänzende Bedeutung" und in den Einleitenden Bemerkungen
zum Unterrichtsbereich Weltkunde: "[Er] erschließt den Hauptschülern
der Klassen 9 und 10 komplexe Ausschnitte der sie umgebenden Wirklichkeit.
Er dient der Orientierung, der Hinführung zur Entscheidungsfähigkeit
und der Anbahnung von Verhaltensweisen im gesellschaftlichen, politischen,
ökonomischen und geistig-kulturellen Umfeld."
Insgesamt wird immer wieder vorgeschrieben, was die Schüler denken
sollen, zu welchen Überzeugungen sie kommen sollen. Dies finden wir
grundsätzlich falsch. Uns geht es daher nicht um eine Aufrüstung
der Lehrpläne mit anderen Inhalten, sondern vielmehr um deren Abrüstung.
Egal, um welche Inhalte es geht: Man beschäftigt sich als Schüler
im Rahmen des Zwangsunterrichts damit, weil man muß, nicht weil
es einen interessiert.
Allein die Tatsache, daß es einem unter Zwang vermittelt wird, sollte
einen durchaus mißtrauisch gegenüber einem Thema machen. Der
Zwang löst teilweise Widerstand oder zumindest Unbehagen aus, was
verhindern kann, daß man sich mit der entsprechenden Thematik überhaupt
weiterbefaßt. Vielfach will man einfach damit in Ruhe gelassen werden.
Wenn es einen nicht interessiert, wird man sich wahrscheinlich nur die
Dinge merken, die ohnehin schon ins eigene Weltbild passen. Was einen
nicht interessiert, wird man auch nicht verstehen. Man denkt dann nicht
wirklich darüber nach, und da man die einzelnen Fakten nicht in ein
Gesamtbild einordnen kann, sondern sie höchstens für einen Test
auswendig lernt, wird man sie wieder vergessen.
Sicher gibt es auch im Zwangsunterricht Themen, die einige Schüler
spannend finden und die ihnen tatsächlich etwas bringen - aber in
diesem Fall braucht man erst recht keinen Zwang.
Wie wenig bei den meisten Schülern vom Zwangsunterricht langfristig
hängenbleibt, sieht man u.a. am Geschichtsunterricht. Obwohl es auch
derzeit Gegenstand des Zwangsunterrichts ist und zigfach besprochen wird,
ist bei den meisten Menschen das Wissen über Nationalsozialismus
und 2. Weltkrieg nicht gerade sehr ausgeprägt.
Die Idee, beispielsweise Demokratie stärker in Lehrplänen zu
verankern, entspringt doch der Überzeugung, daß Demokratie
eine gute Form ist, zu Entscheidungen zu kommen. Aber warum soll man dann
damit bis zum Alter von 18 Jahren warten?
Was man tatsächlich erlebt, hinterläßt einen viel stärkeren
Eindruck als das, was andere einem erzählen. Und derzeit wird zwar
vielleicht mal über Freiheit und Demokratie geredet. Aber was man
als junger Mensch in der Schule (aber nicht nur dort) erlebt, sind autoritäre
Strukturen, das Fehlen von Demokratie (Lehrermacht) und die Vorenthaltung
von Grundrechten.
Demokrat wird man also nicht dadurch, daß man einen Demokratie-Unterricht
besuchen muß, sondern z.B. durch eine demokratisch organisierte
Schule, in der Demokratie für alle erfahrbar ist.
Pädagogisch eingestellte Menschen haben jeweils ihre mehr oder weniger
konkrete Vorstellung davon, wie Kinder sich verhalten und was sie mal
werden sollen. So wird von Mädchen nach wie vor tendentiell erwartet,
daß sie brav, ruhig, fleißig und ordentlich sind, und sich
eher für Sprachen und Kunst/Musik als für Naturwissenschaften
oder Informatik interessieren. Von Jungen nimmt man hingegen eher an,
daß sie frech, laut, tobend und unordentlich seien. Dementsprechend
unterschiedlich reagieren die Lehrer auf Verhaltensweisen und Bildungswünsche
von Mädchen und Jungen. Und der Lehrer hat bekanntlich immer Recht.
Dieses Hineindrängen von Jungen und Mädchen in geschlechtsspezifisches
Rollenverhalten läßt sich am besten verhindern, wenn Lehrer
und Schüler gleichberechtigt sind und jeder Schüler selbst bestimmt,
was er lernt und womit er seine Zeit verbringt.
Ein Lehrplan kann somit auch nicht durch Abstimmung verbindlich für
alle beschlossen werden; was man lernt, ist eine persönliche Angelegenheit
- genauso wie die Nahrung, die man zu sich nimmt.
Selbstverständlich können in einem freien Bildungssystem Kurse
oder Veranstaltungen zu Themen wie Ökologie, Geschlechterverhältnisse
und Demokratie angeboten werden - solange niemand daran teilnehmen muß.
Genau wie in der sonstigen Gesellschaft Veranstaltungen zu diesen Themen
angeboten und beworben werden, aber niemand zur Teilnahme daran verpflichtet
werden kann.
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