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Wahlrecht > Wahlanfechtung > Verfassungsbeschwerde an das BVerfG (18.11.1999)

Verfassungsbeschwerde

RECHTSANWALT
DR. K. PETER MERK
BAYER. OBERSTES LANDESGERICHT, OLG MÜNCHEN, LG MÜNCHEN I UND II

 

 

Bundesverfassungsgericht
Schloßbezirk 3

76131 Karlsruhe

 

München, 18.11.99

Wahlprüfungsbeschwerde gem. § 48 BVerfGG

 

Az. des Bundestages: WP 95 / 98

In dem Wahlprüfungsverfahren
1) des Martin Wilke, Schönfließerstr. 19, 10439 Berlin
2) der Paula Sell, Winsstr. 4, 10405 Berlin
3) des Robert Rostoski, Michaelkirchstr. 30, 10179 Berlin

lege ich namens und im Auftrag des Einspruchsführers gegen den Beschluß des Bundestages vom 30. September 1999

 

B e s c h w e r d e

gem. § 48 BVerfGG

 

ein, mit dem

 

 

A n t r a g

 

die Bundestagswahl zum 14. Deutschen Bundestag vom 27. September 1998 unter Aufhebung des Beschlusses des Bundestages vom 30.09.1999 wegen verfassungswidriger Beschränkung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten für ungültig zu erklären und die sich daraus ergebenden Folgerungen festzustellen (§ 1 Abs. 1 WahlPrüfG).

 

 

B e g r ü n d u n g

 

I.

Die Beschwerde ist zulässig.

1) Der Beschwerdeführer zu 1) ist am 25.03.1980 geboren und hatte damit am 27.09.1998, also dem Tage der Bundestagswahl das 18. Lebensjahr vollendet. Er war daher zu diesem Zeitpunkt bereits aktiv wahlberechtigt. Dem Begehren des Beschwerdeführers sind nun weitere 100 Wahlberechtigte beigetreten. Anliegend übersende ich 100 Erklärungen von Wahlberechtigten, die von diesen persönlich und handschriftlich unterzeichnet wurden. Es sind neben der Unterschrift Familienname, Vorname, Tag der Geburt und Anschrift der Hauptwohnung der Unterzeichner angegeben. Die Erklärungen entsprechen damit den Vorgaben des § 48 Abs. 2 BVerfGG. Daraus ergibt sich die Zulässigkeit der Beschwerde gem. § 48 Abs. 1 BVerfGG.

Die beigetretenen Wahlberechtigten sind explizit nicht nur dem Beschwerdeführer zu 1) sondern auch den Beschwerdeführern zu 2) und 3) beigetreten. Dies ist sachgerecht angesichts der einheitlichen Begründung der Beschwerde.

Sollte das Gericht gleichwohl Bedenken dagegen haben, daß die Beigetretenen allen drei Beschwerdeführern beigetreten sind und beabsichtigen aus diesem Grunde eine Aufteilung zu je 1/3 vorzunehmen, mit der Folge, daß dann auch die Beschwerde des Beschwerdeführers zu 1) jedenfalls formaljuristisch unzulässig würde, wird hiermit ausdrücklich erklärt, daß ausschließlich die Beschwerde des Beschwerdeführers zu 1) weiter verfolgt wird.

2) Die Wahlanfechtungssache wird auch hinsichtlich der Antragsteller zu 2) und 3) weiter verfolgt. Bei diesen handelt es sich zweifelsfrei nicht um Wahlberechtigte, woraus sich gem. dem eindeutigen Wortlaut des § 48 Abs. 1 BVerfGG die Unzulässigkeit des Antrags ergibt. Da jedoch streitgegenständich gerade die de lege lata geltende Altersgrenze für das aktive Wahlrecht gem. Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz GG Gegenstand der Beschwerde ist, ergibt sich so ein unmittelbares Selbstbetroffensein gerade des Personenkreises, der durch die Altersgrenze vom Grundrecht der aktiven Wahl ausgeschlossen wird. Gerade diese Bürger haben daher ein gewichtiges eigenes Interesse an der Entscheidung der Frage, ob Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz GG im Sinne eines inneren Widerspruches der Verfassung wegen Verstoßes gegen die Staatsfundamentalnorm des Art. 20 GG nichtig ist, da sich hieraus die Begründetheit des streitgegenständlichen Begehrens ergeben würde und die betroffenen Beschwerdeführer zu 2) und 3) in die von § 48 Abs. 1 BVerfGG geforderte Stellung der aktiv Wahlberechtigten einrücken würden. Da sich somit die vorliegende Beschwerde gerade auf die Legaldefinition des aktiv Wahlberechtigten und die Verfassungsmäßigkeit der personellen Beschränkung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten bezieht, erscheint es sachgerecht, die Zulässigkeit der Beschwerde auch hinsichtlich der Antragsteller zu 2) und 3) anzuerkennen.

Die Beschwerde ist auch begründet.

 

 

II.

Die Durchführung der angegriffenen Wahl leidet an einem gravierenden Wahlfehler. Art. 38 Abs. 2, 1. Alt. GG verweigert im Sinne einer Altersdiskriminierung einem erheblichen Teil des Staatsvolkes gem. Art. 20 Abs. 2 GG das aktive Wahlrecht.

Dies stellt einen Verstoß gegen den Wahlgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl dar, der als integraler Bestandteil des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG dem Schutzbereich der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG unterfällt.

Das aktive Wahlrecht ist darüber hinaus als das politische Grundrecht anerkannt.

Die Vorenthaltung dieses Grundrechts, also die vollständige Ausgrenzung aus der politischen Partizipation verweigert den betroffenen Bürgern die ihnen als Mensch unabdingbar zukommende Subjektstellung. Sie werden zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Dies stellt einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG dar.

Die Regelung des Art. 38 Abs. 2, 1. Alt. GG verstößt daher gegen die Staatsfundamentalnormen der Art. 20 GG und Art. 1 Abs. 1 GG.

Bei der angegriffenen Wahl wurde Art. 38 Abs. 2, 1. Alt. GG ausnahmslos wortgetreu angewandt. Die hieraus folgende verfassungswidrige Altersdiskriminierung verletzt den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl.

Eine Wahl, bei der der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verletzt wird, ist ungültig.

Im einzelnen ergibt sich folgendes

1.) Die rechtswissenschaftlich herrschende Meinung sieht in dem Begriff des Volkes im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG die pouvoir constituant, also in Übereinstimmung mit der Formulierung in der Präambel und in Art. 146 GG die verfassungsgebende Gewalt. Nach deutschem Recht ist hierfür entscheidend die Staatsangehörigkeit gemäß Art. 116 GG.

Dieses Staatsvolk des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG wirkt rechtserheblich bzw. als politisches Volk durch die Einrichtung einer ausdrucksfähigen Leitungsorganisation. Deren Stabilisierung und Verstetigung führen zur Nation und damit zum Staatsvolk (R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit in: Isensee/ Kirchhoff, (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd. 1 Grundlagen von Staat und Verfassung, 2. Aufl. Heidelberg 1995 § 14 Rdn. 9).

Das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird jedoch trotz identischer Formulierung durch den Verfassungsgeber anders verstanden, nämlich, enger als in Satz 1, als Aktivbürgerschaft, der die bürgerlichen Rechte zustehen (Michael Sachs, GG Komm. Art. 20 Rdn. 19; ebenso R. Grawert a.a.O. Rdn. 23).

In einer Fußnote! schreibt Herzog in Maunz-Dürig hierzu: "Dabei ist übrigens zu beachten, daß die beiden Sätze des Art. 20 Abs. 2 den Begriff des Staatsvolkes in nicht ganz übereinstimmender Weise verwenden. Träger der Staatsgewalt i. S. des Satzes 1 ist die Gesamtheit aller Staatsangehörigen bzw. Deutschen im Sinne des Art. 116, die im Bundesgebiet leben. Ausgeübt i. S. des Satzes 2 wird die Staatsgewalt dagegen nur von den Wahl- Abstimmungsberechtigten, also von der sog. Aktivbürgerschaft.

Der Unterschied muß im folgenden stets bedacht werde, spielt aber keine praktische Rolle, solange der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1) nicht verletzt ist. (Herzog in Maunz-Dürig Komm. zum GG Art. 20 GG S. 34 Fn. 1).

Nach herrschender Meinung wird der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl durch Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG der sämtliche Staatsangehörige unter einem Lebensalter von 18 Jahren von der Teilhabe an der Staatsgewalt völlig ausschließen nicht verletzt. Es wird dabei vielmehr der Standpunkt vertreten, daß sich diese Altersgrenze aus "dem Wesen des aktiven Wahlrechts" ergäbe und "historisch erhärtet" sei. (Maunz in Maunz-Dürig Komm. zum GG Art. 38 Rdn. 40)

Im übrigen wird dieser Personenkreis ohne weiteres gleichgestellt mit Personen denen durch Richterspruch das Wahlrecht entzogen wurde (§ 13 Nr. 1 BWahlG) und Personen, die sich aufgrund einer Anordnung nach § 63 i.V.m. § 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden (§ 13 Nr. 3 BWahlG). Eine Begründung für die Legitimität dieser Ausgrenzung eines erheblichen Teils des Staatsvolkes aus der Praxis repräsentativer Staatsleitung durch Vorenthaltung des aktiven Wahlrechts findet sich in der juristischen Literatur nicht, abgesehen von der vorstehend schon zitierten "historischen Erhärtung" und dem angeblichen "Wesen" des aktiven Wahlrechts. Insbesondere wird dies, wie die vorzitierte Fußnote bei Herzog zeigt, nicht als Problem des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl verstanden, der nach herrschender Meinung zum Kernbestand dessen gehört, was das GG als Demokratie betrachtet und demgemäß als "Bestandteil" des Art. 20 GG durch die Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt ist (Maunz in Maunz-Dürig Komm. zum GG Art. 20 Rdn. 9). Der hier in Frage stehende Art. 38 II 1. Alt. GG gehört demgegenüber nicht zu diesem unantastbaren Bereich.

2.) Das Problem stellt sich jedoch angesichts einer politischen Praxis die seit Jahrzehnten Senioreninteressen priorisiert und dem gegenüber die Interessen von Kinder und Jugendlichen nachrangig

behandelt. Indikator für diese praktische Politik ist zum einen die steigende Kinderarmut bei wachsendem Altersreichtum.

a.) Im Bereich der Staatsverschuldung hat die Deutsche Bundesbank mit der Methodik des Generational Accounting die Belastungsverschiebungen in die Zukunft errechnet und ist zu dem Ergebnis gekommen "daß die Beibehaltung der finanz- und sozialpolitischen Bedingungen des Jahres 1996 zukünftigen Generationen erdrückende Lasten aufbürden würden. Weiter hat die Deutsche Bundesbank hierzu die Auffassung vertreten "das jede Verzögerung die zukünftig notwendigen Einschnitte nur noch vergrößert." (Deutsche Bundesbank Monatsbericht November 1997 S. 30).

b.) Ein vergleichbarer Befund ergibt sich bei der Analyse der Rentenpolitik, die bereits 1957 in eklatanter Abweichung vom Schreiber-Plan nur die Altersversorgung sozialisierte, die gleich wichtigen Unterhaltsleistungen an die Kinder jedoch dem privaten Bereich vorbehielt. Dieser fundamentale Fehler des Rentenneuregelungsgesetzes 1957 wird seitdem von einer in diesen Bereich permanent bestehenden großen Koalition der etablierten Parteien verschwiegen und mit der Behauptung einer Pflicht aus dem Generationenvertrag verdeckt.

Die Verwendung des Begriffs des Generationenvertrages durch die Politik ist irreführend. Der Begriff stammt aus dem Schreiber-Plan und wurde dort ausschließlich für die Beziehung der drei Generationen, also Kinder, Erwachsene und Senioren und deren Unterhaltsbeziehungen verwendet. Aus der Einsicht dieser drei Generationenbeziehung heraus forderte Schreiber auch neben der Altersrente, die Kinderrente, um das System nachhaltig zu stabilisieren. Hiervon wurde im Rentenneuregelungsgesetz 1957 nur die eine Hälfte, nämlich die Altersrente realisiert.

Es ist deshalb nicht nur irreführend, sondern ersichtlich unredlich, dieses amputierte System bei dem nur die eine Hälfte, nämlich die Altersversorgung sozialisiert wird, trotzdem noch als Generationenvertrag zu bezeichnen. Diesem System fehlt die im Schreiber-Plan durch

Gleichrangigkeit beider Versorgungsbeziehungen gewährleistete Nachhaltigkeit. Die Beziehung besteht nur noch aus zwei Generationen. Im Bereich der Rentenpolitik wurde von beiden großen Parteien durch die Verwendung der Begriffe "Generationenvertrag" und die viel beschworene "Solidarität zwischen den Generationen" im Wege symbolischer Politik der Eindruck erweckt, es handle sich dabei um ein System, das den Anforderungen der Verteilungsgerechtigkeit genügt, obwohl dies ersichtlich unzutreffend ist.

Sozialwissenschaftlich und politikwissenschaftlich ist dieses Verhalten der Repräsentanten nicht weiter verwunderlich, aufgrund der wahlentscheidenden Position der Über-60jährigen.

Es ist eine Binsenweisheit, daß die Chance einer Bevölkerungsgruppe "ihre Transferinteressen über den wahlpolitischen Mechanismus zu realisieren, eine Funktion der Gruppengröße ist (Thomas von Winter Sozialpolitische Interessen Baden Baden 1997 S. 207 m.w.H.). Aufgrund dieses Umstandes tendieren die großen Parteien übereinstimmend dazu, die ruhestandsbezogenen Interessen der Älteren Menschen in ihr wahlpolitisches Kalkül einzubeziehen. Es stellt sich daher als außerordentlich schwer heraus, restriktive Maßnahmen zu beschließen, weil dies der Oppositionspartei wahlpolitische Vorteile bei den Rentnern verschaffen würde.

 

Es stellt sich somit das Wählerpotential der Rentner als ein Faktor dar, der sogar zu einer Überbietungskonkurrenz der Parteien führen kann.

"Die Rentner sind somit ein bevorzugtes Objekt der Stimmenkonkurrenz und sie sind unter günstigen gesellschaftlichen Bedingungen auch häufig in den Genuß einer antizipierenden Interessenberücksichtigung durch die Parteien gekommen (Thomas von Winter a.a.O. S. 208).

Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß die Rentner eine relativ geringe Fluktuation in ihrem Wahlverhalten zeigen. Die Rentner können als "schlafender Riese" angesehen werden, der nur deshalb ein stabiles Wahlverhalten zeigt, weil beide Parteien den Senioreninteressen absolute Priorität einräumen. So sind praktisch alle gravierenden rentenpolitische Entscheidungen in der Vergangenheit in einem parteiübergreifenden Konsens getroffen worden. In einer Art "vorauseilendem Gehorsam" wurden und werden daher Senioreninteressen priorisiert um diese als Wählerpotential zu erhalten. Eine Regierung die es wagen würde die gebotenen Einschnitte und Reformen bei der Rentenpolitik umzusetzen, und damit unvermeidlich der Seniorengeneration erhebliche Leistungseinbußen zuzumuten, müßte damit rechnen, die Senioren als Wähler zu verlieren. Eine Wiederwahl wäre auf diese Weise von vornherein ausgeschlossen. Bei jeder sozialpolitischen Entscheidung wird daher die potentielle wahlpolitische Reaktion der Senioren in Rechnung gestellt.

Da andererseits die Unter-18jährigen keinerlei wahlpolitische Reaktion zeigen können, da sie über Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG von vornherein aus dieser Konkurrenz ausgegrenzt sind, ist es unmittelbar einsichtig, daß deren Interessen sich im politischen Kalkül als von untergeordneter Bedeutung darstellen. Eine derartige politische Praxis untergräbt, wenn sie wie geschehen über Jahrzehnte praktiziert wird schleichend den inneren Frieden.

Die Entwicklung seit 1957 zeigt, daß sich damals bestehende Altersarmut gewandelt hat in beträchtlichen und ständig zunehmenden Alterswohlstand. Gleichzeitig ist festzustellen, und hierzu hat das statistische Bundesamt bestürzende Daten, daß seit 1957 die Kinderarmut ständig zugenommen hat.

3.) Angesichts dieser Situation, bei der die Lebenschancen der vom Wahlrecht ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe der Kinder und Jugendlichen in massiver Weise beschnitten und routinemäßig vernachlässigt werden, zu Gunsten einer ständigen Ausweitung des Lebensstandards der Seniorengeneration ist die Frage legitim, ob das ersichtliche Versagen der politischen Führung im Hinblick auf die gebotene Verteilungsgerechtigkeit Ihre Ursache hat in einem Repräsentationsdefizit, also in der Differenzierung zwischen Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG und Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG.

Damit stellt sich unmittelbar die Frage der Verfassungswidrigkeit des Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG. Dies führt zur Problematik des inneren Widerspruchs der Verfassung. Ein solcher wird von der herrschenden Meinung, als durchaus möglich anerkannt, insbesondere dann, wenn ein Verstoß einer "einfachen" Verfassungsvorschrift gegen die

Staatsfundamentalnormen der Art. 20 und Art. 1 in Frage steht (Herzog in Maunz-Dürig Art. 20 GG Rdn. 22 und Rdn. 25). Da der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl dem Kernbestand des Art. 20 GG zugerechnet wird, worauf schon hingewiesen wurde, stellt sich dieser Grundsatz als Prüfungsmaßstab gegenüber Art. 38 Abs. 2

1. Alt. GG dar. Auch stellt sich die Frage, ob Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar ist.

a.) Das aktive Wahlrecht ist die ursprünglichste und direkteste Form der Ausübung von Staatsgewalt. (Herzog in Maunz-Dürig Art. 20 GG Rdn. 8). Das Wahlrecht wird als das vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat angesehen (BVerfGE 1, 14 (33)). Es handelt sich um das politische Grundrecht (BVerfGE 1, 208 (242; Michael Sachs GG Komm. Art. 38 Rdn. 100). Wenn der Staat einem Staatsangehörigen aber ein Grundrecht vorenthält, stellt sich die Frage nach der Verletzung der Menschenwürde.

"Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung ist mit dieser Maßgabe ein Grundrecht auf Demokratie: einerseits ist ihre demokratiebegründende Seite zu sehen; andererseits sind die Grundrechte dem Volk "zuzurechnen". Die "Summe" dieser Grundrechtsträger als Einzelmenschen bedeutet in einem ideellen Sinn auch eine Summe von Grundrechten, die das Volk im Verfassungsstaat konstituieren. Konsequenz ist ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z. B. Art. 38, 29 und 33 GG) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe: sie sind - zumal im Verbund mit der politischen Dimension der Art. 5 und 8 GG (...) als "funktionelle Grundlage der Demokratie" konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen "Schicht" der Menschenwürdeklausel. Es wäre z. B. auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn einzelne Gruppen von Bürgern (etwa "die Alten") von ihren Wahlrechten ausgeschlossen würden: sie würden zum Objekt staatlichen Handelns (mit Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Raum) und verlören ihre Identität als Person (auch Stimmenthaltung kann Identitätsfindung sein). (P. Häberle in Isensee / Kirchhoff (Hrsg) Handbuch des Staatsrechts Bd. 1 Grundlagen von Staat und Verfassung § 20 Rdn. 69.)

Häberle ist in dieser Position uneingeschränkt zuzustimmen. Ersetzt man in seiner Argumentation "die Alten" zu durch "die Jungen", so

wird das hier diskutierte Problem offenbar. Nachdem Grundrechtsträger und insbesondere Subjekt des Art. 1 Abs. 1 GG der Mensch unabhängig von seinem Alter ist, ergibt sich die unabweisliche Feststellung, daß die 0 - 18jährigen (die Jungen) in ihrer Würde nicht anders bewertet werden können, als die über 60jährigen (die Alten) mit der Folge, daß die Ausgrenzung der einen Gruppe in gleicher Weise gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt, wie die Ausgrenzung der anderen Gruppe.

Mithin ist festzustellen, daß Art. 38 Abs. 2 1. Alt. "die Jungen", also die 0 - 18jährigen durch Vorenthaltung des aktiven Wahlrechts zum Objekt staatlichen Handelns herabwürdigt und demgemäß mit der Staatsfundamentalnorm des Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar ist.

b.) Ähnlich verhält es sich mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Dieser fordert Gleichheit beim Zugang zur Wahl. Es handelt sich um einen Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes, der sich jedoch von diesem durch seinen formalen Charakter unterscheidet (BVerfGE 11, 266 (271); 28, 220 (225); 36, 139 (141); Michael Sachs GG Komm. Art. 38 Rdn. 79; h. M.).

Die Formalisierung der Allgemeinheit im Bereich des Wahlrechts verbietet nicht jegliche Differenzierung, sondern erlaubt Begrenzungen in der Allgemeinheit der Wahl, sofern für sie ein zwingender - anerkennenswerter wichtiger - Grund besteht. (Michael Sachs GG Komm. Art. 38 Rdn. 81).

Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verbietet es dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von der Wahl auszuschließen, und fordert, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können. (Schmitt-Bleibtreu /Klein Komm. zum GG 8 Aufl. Art. 38 Rdn. 5).

"Alle Unterschiede des Geschlechtes, der Herkunft, Hautfarbe, Rasse, des Besitzes, der Bildung oder Einsichtsfähigkeit dürfen nicht Maßstab unterschiedlicher Regelungen sein (Schmitt-Bleibtreu /Klein Komm. zum GG Art. 38 Rdn. 9 unter Hinweis auf Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 18 Aufl. Tz. 435).

Nach dem herrschenden juristischen Verständnis von der Bedeutung der Allgemeinheit der Wahl gibt es daher ersichtlich kein Kriterium, das es rechtfertigen würde "die Jungen" (0 - 18jährigen) vom aktiven Wahlrecht auszuschließen. Das Verständnis der herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft fordert vielmehr zwingend ihre Einbeziehung.

Die Ausgrenzung erfolgt ausschließlich deshalb, weil Art. 38 Abs. 2

1. Alt. GG dies mit Verfassungsrang festlegt. Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG ist aber mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unvereinbar und verstößt deshalb auch gegen Art. 20 als zweite Staatsfundamentalnorm.

"Die fundamentale Bedeutung des Wahlrechts und der dynamische Charakter des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl erfordern eine ständige Überprüfung und ggf. Anpassung der Beschränkungsgründe an die sich ändernden Bedingungen für die Ausübung des Wahlrechts. (Michael Sachs GG Komm. Art. 38 Rdn. 82).

Dem hat der Verfassungsgesetzgeber in der Vergangenheit bereits einmal Rechnung getragen durch Senkung des Wahlalters für aktive Wahl in Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG vom 21. auf das 18. Lebensjahr. Bis zur Senkung der Volljährigkeitsgrenze mehrere Jahre später ergab sich die Situation, daß Minderjährige wahlberechtigt waren.

4.) Angesichts der schon beschriebenen besorgniserregenden Konsequenzen dieses Repräsentationsdefizites für die praktische Politik erscheint es unabdingbar, diesen inneren Widerspruch der Verfassung der unter Verstoß gegen die Staatsfundamentalnormen der Art. 1 Abs.1 und 20 GG einen erheblichen Teil des Staatsvolkes von der Repräsentation vollständig ausschließt dadurch zu beheben, das Art. 38 Abs. 2 1. Alt. GG für verfassungswidrig erklärt, oder vom Bundestag aufgehoben wird.

Der Bundestag kann das letztere für die Zukunft leisten. Schon einmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde mit der politischen Forderung "Mehr Demokratie wagen" ein Modernisierungsschub eingeleitet. Es erscheint geboten, angesichts des vorstehend beschriebenen Repräsentationsdefizites, das zu einer systematischen Benachteiligung der gesellschaftlich wichtigsten Bevölkerungsgruppe der Kinder führt, diese Forderung zu erneuern. Die bestehende Lücke zwischen Demokratieprinzip und real existierender Demokratie würde geschlossen, mindestens jedoch effektiv minimiert. Dies würde die Durchsetzungschancen einer am Kriterium der Nachhaltigkeit orientierten praktischen Politik, wie dies etwa Art. 2 EuV, Art. 2 und 6 EGV, aber auch Art. 20 a GG fordert erheblich verbessern.

Nachhaltigkeit zielt auf Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Primärer Träger dieses Interesses sind die Kinder und Jugendlichen. Bei der gegenwärtigen Rechtslage werden sie politisch als nicht existent definiert und stellen deshalb im politischen Sinne die erste zukünftige Generation dar. Ihre Einbeziehung in die zeitgenössische Repräsentation würde den Entscheidungsspielraum praktischer Politik zur Gewährleistung von Nachhaltigkeit bzw. Zukunftsfähigkeit zum einen erhöhen, zum anderen aber, und hierauf kommt es entscheidend an, demokratietheoretisch überhaupt erst rechtfertigen.

"Könnte sich eine 2/3 Mehrheit des Bundestages dazu entschließen Art. 38 Abs. 2 Halbs. 1 GG entsprechend den vorherigen Ausführungen zu ändern, so wäre ein großer Schritt in Richtung Familien- und Kindergerechtigkeit in unserer Gesellschaft getan." (Peschel-Gutzeit in NJW 1997, 2861f).

Das Bundesverfassungsgericht ist im Wahlprüfungsverfahren befugt die Verfassungsgemäßheit des Wahlverfahrens an den verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätzen, also hier der Allgemeinheit der Wahl zu prüfen. Die Tatsache, daß die verfassungswidrige Norm nicht einfaches Gesetz, sondern selbst im Range einer Verfassungsvorschrift steht, macht keinen grundsätzlichen Unterschied, da sie jedenfalls im Range unter den Staatsfundamentalnormen steht, mit denen sie sich als unvereinbar erweist.

Der hier behauptete innere Widerspruch der Verfassung mit dem Ziel die Verfassungswidrigkeit des Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz GG wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 2 GG festzustellen, ist nicht von vornherein unzulässig, weil es sich bei Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz GG um formal ranggleiche Normen der Verfassung handelt. Aufgrund des Ewigkeitsvorbehaltes des Art. 79 Abs. 3 GG kommt den Staatsfundamentalnormen der Art. 1 und Art. 20 GG eine Sonderstellung zu, die ihnen jedenfalls materiell vor allen anderen formal gleichen Regelungen des Grundgesetzes eingeräumt wird. (Roman Herzog in Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 20 Abschnitt I, Rdn. 22).

Umstritten ist zwar, ob sich das Wahlprüfungsverfahren auch auf die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wahlrechtsnormen durch die Wahlprüfungsorgane erstrecken darf. "Nicht zu bezweifeln ist, daß das BVerfG auch im Wahlprüfungsverfahren zur Normenkontrolle befugt ist. Die Normenkontrollbefugnis des BVerfG besteht unabhängig von der konkreten Verfahrensart und ist daher auch im Verfahren nach Art. 41 Abs. 2 GG, § 13 Ziff. 3 BVerfGG nicht ausgeschlossen." (Maunz in Maunz-Dürig, Art. 41 GG, Rdn. 16). Es sprechen somit keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen und verfassungsstrukturellen Erwägungen gegen das hier verfolgte Begehren.

5.) Der Antragsteller zu 3) hat bereits im Vorfeld der Bundestagswahl den Versuch unternommen, seine politische Partizipation zu erstreiten. Er ist mit seinem Antrag auf Eintragung ins Wählerregister vor dem Verwaltungsgericht Berlin gescheitert. Das Gericht hat die Zulässigkeit eines solchen Antrages verneint und den Antragsteller in der mündlichen Verhandlung mit seinem Begehren ausdrücklich auf das Wahlprüfungsverfahren verwiesen. Im Urteil hat das Gericht ausgeführt:

"Gerichtlicher Rechtsschutz außerhalb des in § 22 der BWO geregelten Rechtsbehelfsverfahren kann somit auch im Hinblick auf Art. 31 des GG nur im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht erlangt werden..... Im vorliegenden Fall würde die vom Kläger aufgeworfene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit eines Mindestwahlalters für das aktive Wahlrecht schon aufgrund ihrer Allgemeinheit und den Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestages, wohl auch im Wahlprüfungsverfahren geltend gemacht werden können.

Eine Verkürzung des gerichtlichen Rechtsschutzes ist gerade im vorliegenden Fall daher schon deshalb nicht zu besorgen, weil auch das Verwaltungsgericht bei Zulässigkeit der Klage günstigsten Falls zu einer Vorlageentscheidung nach Art. 100 Abs. 1 des GG hätte kommen können und daher auch in diesem Fall letztlich das Bundesverfassungsgericht über die vom Kläger aufgeworfene verfassungsrechtliche Frage zu entscheiden gehabt hätte (VG Berlin Az. VG 26 A 46/98). Es wird anheim gestellt, die Akten des Verfahrens beizuziehen."

Das Urteil des VG Berlin ist rechtskräftig. Entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts verfolgt der Antragsteller zu 3) sein Begehren deshalb mit dem Wahlprüfungsverfahren weiter.

 

III.

 

Seitens des Bundestages ist ausweislich der Begründung eine Normenkontrolle weder in Betracht gezogen, geschweige denn durchgeführt worden. Der Bundestag verweigert entgegen der herrschenden Lehre in ständiger Praxis die Normenkontrolle (Maunz in Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 41 Rdn. 17).

Diese Praxis des Bundestages zu diskutieren, ist nicht das Anliegen der Beschwerde. In konsequenter Einhaltung dieser ständigen Praxis des Bundestages hat dieser in den Gründen des Beschlusses vom 30.09.99 keine substantiellen Überlegungen zum Vorbringen der Antragsteller angestellt. Der Bundestag referiert vielmehr nur die bestehende Rechtslage ohne die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit der Altersgrenze gem. Art. 38 Abs. 2, 1. Halbsatz GG im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 GG zu thematisieren. Eine Stellungnahme zu den Ausführungen des Bundestages im Beschluß vom 30.09.99 ist daher nicht veranlaßt.

 

Die Beschwerde ist damit begründet.

 

 

Dr. Merk

Rechtsanwalt

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