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Sudbury Schools - konsequent freie und demokratische Schulen

- Eine Einführung -

aktualisiert am 26.03.2001

 

Diese Texte wurden von Mitarbeitern verschiedener Schulen des Sudbury-Typs geschrieben und geben zusammen einen einigermaßen umfassenden Eindruck von Philosophie und Praxis der Sudbury Schools.

Seit einiger Zeit gibt es in Berlin auch eine Gründungsgruppe für eine Schule des Sudbury-Modells.


I. Die Sudbury Valley School [Auszug]

von Scott Gray

Ich arbeite für eine Schule, die sich Sudbury Valley nennt. Diese Schule läuft seit über 25 Jahren. Mehrere andere Schulen innerhalb und außerhalb des Landes sehen den Erfolg unserer Schule und übernehmen unser Schulmodell.

Die Schule nimmt jeden auf, der mindestens vier Jahre alt ist. Die Schule ist von der New England Association of Schools and Colleges anerkannt und darf High-School-Abschlüsse zu vergeben (später mehr dazu). Es ist eine Privatschule, die auf Schulgeld angewiesen ist. (Das Schulgeld beträgt weniger als die Hälfte der Kosten pro Schüler an einer örtlichen Staatsschule) Zuschüsse oder Staatsgelder lehnt die Schule ab. (Das geschätzte Einkommen 1993 beträgt 413 500 US$, wovon 410 000 US$ Schulgeld und der Rest Zinsen sind.) Studien über unsere Ex-Schüler zeigen, daß sie in jeder Hinsicht "erfolgreich" sind; die meisten haben ihre gewünschte Berufslaufbahn eingeschlagen oder sind aufs College gegangen; die meisten haben ein gutes Einkommen, und – was meiner Meinung nach die beste Definition von Erfolg ist – die meisten sind glückliche Menschen.

Die Anlage ist eine schöne viktorianische Villa auf einem 4 ha großen Gelände. Sie ist eingerichtet wie eine Wohnung, mit Couchen, bequemen Stühlen, Büchern überall (anstatt in einer Bibliothek versteckt), usw. Das Gelände ist sehr gut geeignet für Sport und Spiele. Die Schule verfügt über mehrere technische Hilfsmittel: ein Chemie- und Biolabor, eine Dunkelkammer, ein Klavier, eine Stereoanlage, einen Teich, der gut zum Angeln geeignet ist, mehrere Computer, usw.

Die (mindestens 4 Jahre alten) Schüler dürfen während des Tages tun, was sie wollen, solange sie dabei die Schulordnung einhalten (später mehr dazu). Das Schulgelände ist "offen" und man kann kommen und gehen, wie man Lust hat, ohne das mit einem Büro absprechen zu müssen oder ähnlichem Blödsinn. Niemand ist gezwungen, am Unterricht teilzunehmen, und tatsächlich: Unterrichtsstunden sind selten und haben wenig mit dem üblichen Verständnis von Schulunterricht zu tun. Es gibt keine Tests oder Zensuren irgendeiner Art. Schüler und Mitarbeiter (Lehrer) sind in jeder Hinsicht gleichgestellt. Schüler und Mitarbeiter reden sich mit dem Vornamen an, und die Beziehungen zwischen Schülern und Mitarbeitern unterscheiden sich kaum von den Beziehungen der Schüler untereinander.

Die Schule wird demokratisch durch das School Meeting regiert. Das School Meeting findet wöchentlich statt und besteht aus den Schülern und den Mitarbeitern (jeder hat eine Stimme). Das School Meeting entscheidet alle bedeutenden Angelegenheiten: Es wählt aus seinen Reihen den Verwaltungsmenschen (ja, es wird kein Unterschied zwischen Schülern und Mitarbeitern gemacht, was die Wählbarkeit für ein Amt angeht), es legt die Schulordnung fest (die von einem Justizkommittee durchgesetzt wird, siehe später), macht finanzielle Ausgaben, legt der School Assembly das Jahresbudget zur Genehmigung vor (siehe später), stellt Mitarbeiter ein, entläßt sie oder stellt sie wieder ein (es gibt keine Beschäftigungsgarantie, jeder Mitarbeiter kann jedes Jahr wiedergewählt werden), usw.

Die School Assembly trifft sich einmal im Jahr, und besteht aus den Schülern, den Mitarbeitern und den Eltern der Schüler (da die meisten Eltern Schulgeld bezahlen, ist es nur als vernünftig anzusehen, ihnen etwas Mitspracherecht bei der Verwendung ihres Geldes zu geben). Die School Assembly muß das (vom School Meeting vorgelegte) Budget genehmigen. Dieses beinhaltet die Höhe des Schulgeldes, das Gehalt der Mitarbeiter, usw. Außerdem stimmt die Assembly darüber ab, ob den Schülern, die dies wünschen, ein Schulabschluß gegeben wird. Die Assembly ist das Gremium, in dem die Politik der Schule gemacht wird.

Innerhalb der Schule werden die Regeln mit einem Justizsystem durchgesetzt, welches im Laufe der letzten 25 Jahren mehrere Male neudefiniert wurde. Seine gebräuchlichste Erscheinungsform dreht sich um das Justizkommittee. Dieses besteht aus zwei Präsidiumsmitgliedern, die alle zwei Monate gewählt werden (bisher immer Schüler), fünf jeden Monat zufällig ausgewählten Schülern und einem Mitarbeiter, der nur für einen Tag ausgewählt wird. Das Justizkommittee untersucht Beschwerden über Verletzungen von Schulregeln und spricht manchmal Strafen aus. Wenn das Justizkommittee jemanden für schuldig hält und er oder sie sich unschuldig bekennt, gibt es eine Verhandlung. Wenn sich eine Person schuldig bekennt oder nach der Verhandlung schuldig gesprochen wurde, wird der Beschuldigte vom Justizkommittee verurteilt. Urteile, die von dem Beklagten (oder anderen) als unfair empfunden werden, können vor dem School Meeting angefochten werden.

Alle Mitglieder des School Meetings sind vor dem Gesetz gleich. Und tatsächlich war der erste Schuldspruch gegen Mitarbeiter gerichtet. Typische Urteile sind Sachen wie "für zwei Tage nicht nach draußen gehen dürfen", "für eine Woche nicht in die obere Etage gehen dürfen", usw.

Demokratie allein ist aber nicht genug, um eine stabile glückliche Gemeinschaft zu erschaffen. Die von Aufständen geplagten demokratischen Stadtstaaten des Alten Griechenlands sind ein Beweis dafür. Es ist ebenso wichtig, daß persönliche Freiheiten und Rechte respektiert werden. Als solche sichert die Schule ihren Schülern die Freiheiten zu, die in der Bill of Rights garantiert werden; normalerweise wird Schülern in der amerikanischen Gesellschaft nicht die Gedanken- oder Religionsfreiheit zugestanden (ein Elternteil kann sein Kind in die "Sonntagsschule" zwingen), die Versammlungsfreiheit (in traditionellen Schulen wird ihnen nicht einmal erlaubt, ohne Erlaubnis des Lehrers, ihren Platz zu verlassen, um aufs Klo zu gehen), usw.

Der "Zweck" der Schule wird darin verstanden, Kinder zu bilden. Laß mich also die Gründe ausführen, warum wir glauben, daß Freiheit und Demokratie für Kinder die beste Umgebung zum Lernen sind. [...]

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II. Häufig gestellte Fragen zu den Sudbury Schools

aus den FAQs der Fairhaven School, der Cedarwood Sudbury School und der Sudbury Valley School

 

Was ist eine Sudbury School?

Fairhaven School:

Sudbury Schools, das sind Schulen, die nach dem Vorbild der Sudbury Valley School arbeiten, die vor 31 Jahren in Framingham (Massachusetts, USA) gegründet wurde. In den Vereinigten Staaten, Dänemark und Australien gibt es insgesamt etwa 20 Schulen, die auf diesem Modell basieren. Dieses Modell ist auf zwei Grundsätzen gegründet: Lernfreiheit und Demokratie. An Sudbury Schools sind das nicht nur Phrasen, sondern Realität. Die Schüler entscheiden selbst, womit sie ihre Zeit verbringen. Und alle Entscheidungen, die die Schulgemeinschaft betreffen, werden von allen, die von der Entscheidung betroffen sind, durch Mehrheitsentscheidung getroffen.

 

Warum vollkommene Lernfreiheit?

Fairhaven School:

Wenn Kinder auf die Welt kommen, haben sie die instinktive Fähigkeit und innere Motivation, mit Sachen und Ideen umzugehen und Beziehungen mit anderen Leuten einzugehen, um die Welt zu begreifen, in die sie hineingeboren wurden, und einen sinnvollen Platz in ihr einzunehmen. Mit anderen Worten: Alle Menschen werden als Schüler des Lebens geboren; zum Lernen müssen sie nicht gezwungen oder manipuliert werden. Sie brauchen auch keinen formalen Lehrplan, genauso wie Kleinkinder keinen formalen Plan brauchen, um sprechen zu lernen. Ihr Spiel, ihre Gespräche und ihr ganzes Leben sind sehr gut geeignet, ihnen die grundlegenden Fähigkeiten zu vermitteln, die sie in unserer komplexen, sich schnell verändernden Welt zum Überleben brauchen. Ihre Neugier und der Wunsch, erfolgreiche Erwachsene zu werden, sind für Schüler Motivation genug, jenen speziellen Fähigkeiten und Interessen aktiv nachzugehen, die Erfolg auf dem Arbeitsmarkt bzw. in weiterführenden Schulen mit sich bringen. Wir glauben, daß ein vorgefertigter Lehrplan dem eigenen Plan des Schülers in die Quere kommt. Dadurch, daß sie ihren eigenen Interessen nachgehen, sind die Schüler ständig mit Dingen beschäftigt, die sie als herausfordernd und anregend und deshalb im weitesten Sinne als "bildend" empfinden. Untersuchungen haben gezeigt, daß die Bestechung und Bestrafung, die man braucht, um Leute dazu zu bringen, Sachen zu lernen, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben – daß diese Maßnahmen der inneren Motivation schaden und die Menschen davon abhalten, diese Sachen zu tun, sobald Belohnung oder Bestrafung nicht mehr in Aussicht stehen. Mit anderen Worten: Der vorbestimmte Lehrplan, die Unterordnung der Gruppe unter den Willen des Lehrers und die Noten zur Belohnung oder Bestrafung von Leistung, die man in traditionellen Schulen vorfindet, wirken sich auf lange Sicht verheerend auf die natürliche eigene Fähigkeit und Motivation zu lernen aus.

 

Mangelt es an einer demokratisch geleiteten Schule nicht an Struktur?

Fairhaven School:

Überhaupt nicht. Demokratie ist auch in der Hand von jungen Menschen weder Anarchie noch Gewaltherrschaft wie in "Herr der Fliegen". Demokratie an der Fairhaven School beinhaltet ganz klare Regeln für Ordnung und Leitung der Schule. Das School Meeting trifft sich einmal in der Woche und stellt neue Regeln auf oder streicht bestehende, entscheidet, wie das Budget ausgegeben wird und stellt Mitarbeiter ein bzw. entläßt sie. Jeder Schüler und jeder Mitarbeiter (Lehrer) hat die Möglichkeit, am Meeting teilzunehmen und die Leitlinien der Schule zu beeinflussen, indem er von der Kraft des Überzeugens und von der Macht seiner (Wahl-)Stimme gebraucht macht. Das Meeting wird nach Robert’s Rules of Order geleitet. Die Schüler lernen, Anträge zu ändern, Gleichgesinnte hinter sich zu bringen und mit den Entscheidungen der Mehrheit zu leben. Mit anderen Worten: Die Schüler erfahren das wahre Leben in einer Demokratie, die sich widersprechenden Bedürfnisse der verschiedenen Interessengruppen, die Spannungen und das Gleichgewicht zwischen den Rechten des Einzelnen und den Bedürfnissen der Gemeinschaft sowie den unvermeidlichen Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. Auch bei der Durchsetzung der Regeln gelten Demokratie und rechtsstaatliche Prinzipien. Schüler haben z.B. das Recht auf einen fairen Prozeß und das Recht, das Urteil anzufechten. Jeder ist verpflichtet, einen kleinen Teil des Jahres im Justizkommittee tätig zu sein. Der Prozeß kann manchmal zeitraubend und bürokratisch sein, wie in jeder Demokratie, aber letztendlich ist er der einzig logische Weg, eine Schule zu leiten, deren Ziel es ist, die Schüler auf das Leben in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten.

 

Wie stellt Eure Schule sicher, daß die Schüler das "Grundwissen" lernen, das in anderen Schulen formal gelehrt wird?

Fairhaven School:

Wir vertrauen darauf, daß die Schüler ein Bedürfnis – und damit auch einen inneren Grund – verspüren werden, die Fertigkeiten zu erlernen, die tatsächlich grundlegend sind, um in unserer Gesellschaft Erfolg zu haben. Jeder braucht Lese- und Schreibfertigkeiten, um einem Freund zu e-mailen oder die Anleitung eines neuen Gerätes zu lesen; oder Mathe, um ein Soda zu kaufen oder etwas zu bauen. Über dieses traditionelle "Grundwissen" hinaus gibt es eine Menge von Informationen, die im Leben nützlich sind. Warum Allergien die Menschen krank machen, wie Versicherungsanstalten funktionieren, was ein "Angeklagter" ist – das sind Beispiele von Dingen, die wir alle wahrscheinlich zu wissen gebrauchen können. Aber jeder aufmerksame Mensch wird solche grundlegenden Informationen sein ganzes Leben lang mitbekommen, durch Gespräche, Fernsehen, Lesen oder eigenes Erleben. Andererseits gibt es viele Dinge, die an gewöhnlichen Schulen gelehrt werden – wie z.B. daß John Adams unser zweiter Präsident war, die Luftströmungen über der Sahara oder die Anzahl der Abgeordneten im Congress –, welche die Schüler, die ihr Leben an Fairhaven verbringen, entweder mitbekommen oder auch nicht. Wenn ein Schüler an den Einzelheiten eines Fachgebietes interessiert ist, sind die Möglichkeiten jedenfalls unbegrenzt. Die Schule hilft den Schülern, Zugang zu den Informationen bekommen. Dies geschieht durch unsere Bibliothek, durch das Internet, durch Exkursionen, Praktika und gelegentlich auch durch Unterricht oder Kurse, die von unseren Mitarbeitern abgehalten werden oder von jemandem, der für diesen Zweck zeitweise angestellt wird.

Cedarwood Sudbury School:

Die Schule bietet eine Umgebung, in der Wissen nützlich ist. Zum Beispiel findet man überall in der Schule geschriebenes: Entlang der Wände stehen Regale voll mit Büchern, die Benutzungsregeln für Computer und Sportausrüstung sind ausgehängt, und auch bei den Tagesordnungen und Protokollen, die zur Demokratie der Schule gehören, kommt Schrift vor. Früher oder später erkennt jeder die Nützlichkeit des Lesenlernens. Mitarbeiter, andere Schüler und oft auch die Eltern werden ihm oder ihr dann helfen, diese Fähigkeit zu erwerben.

Ähnlich verhält es sich nicht nur mit anderem "Grundwissen", sondern auch mit wichtigen Fertigkeiten, die in anderen Schulen nur selten betont werden. Bei uns arbeiten die Schüler hart daran, ihre Gesprächsfähigkeit zu verbessern, andere Menschen mit Respekt zu behandeln und selber für Sauberkeit in den Räumen zu sorgen. Sie lernen auch, wo ihre Interessen liegen, und wie sie die Dinge erreichen, die sie wirklich wollen.

Obwohl diese Fertigkeiten oft schwer zu meistern sind, lernen die Schüler sie freiwillig – weil sie so nützlich sind. Menschen sind von Natur aus so geschaffen, daß sie nützliche Dinge lernen wollen – Kleinkinder, die die unglaublich komplexen Fähigkeiten des Laufens und Sprechens meistern, beweisen das. Und sie lernen diese Dinge ohne die Hilfe eines "Lehrplans" oder irgendwelcher "Lehrmethoden".

[...]

Sudbury Valley School (Wayne Radinsky):

Kinder müssen nicht zum Lesen gezwungen werden. Wenn du überall Zeichen sehen würdest, die für dich wie Unsinn aussehen, jeder um dich herum sie aber verstehen könnte – würdest du es dann nicht auch können wollen? Kinder sind durch ihre eigene Neugier motiviert – es gibt etwas, das sie lesen wollen, also lernen sie Lesen, um an diese Information zu kommen. Bei einigen Kindern kommt der Wunsch zu lesen, wenn sie jünger sind, und bei einigen, wenn sie älter sind. Aber letztendlich lernen sie es alle. Und wenn sie es tun, ist es leicht zu lernen – es ist so viel einfacher, einem Kind etwas beizubringen, das interessiert ist, als einem, das man dazu zu zwingen versucht. Und: Das Alter des Kindes spielt, sobald es das Lesen gelernt hat, keine Rolle. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Lesefähigkeit eines Kindes, das mit sechs Jahren Lesen gelernt hat, und der eines Kindes, das es mit zehn Jahren gelernt hat.

 

Aber mein Kind ist nicht motiviert zu lernen. Wird es an Eurer Schule nicht einfach seine Zeit verschwenden?

Fairhaven School:

Es gibt viele Gründe für ein Kind, zeitweise seine natürliche Motivation zu lernen zu verlieren. Die Erfahrungen aus traditionellen Schulen können Schüler gelangweilt, rebellisch oder mit Angst zu versagen zurücklassen. Es kann sein, daß das Kind motiviert ist zu lernen, daß es aber einen anderen Plan verfolgt als den seiner Schule oder den seiner Eltern. Es kann fasziniert sein von Video-Spielen, Freundschaft und sozialen Kompetenzen, davon, Autofahren zu lernen, oder ein einzigartiges Mode-Image zu entwickeln. An der Fairhaven School werden alle Beschäftigungen geschätzt, nicht in dem Maße, wie sie in den Plan der Erwachsenen passen oder die Schüler direkt auf Berufsziele vorbereiten, sondern in dem Maße, in dem Schüler interessiert sind, ihnen nachzugehen. Interesse bedeutet, daß der Verstand beschäftigt ist, und die Schüler lernen notwendigerweise, sich zu konzentrieren, bei ihrer Tätigkeit zu bleiben und ihrer eigenen Fähigkeit zu lernen zu vertrauen.

Es ist gegen die Natur des Menschen, Eintönigkeit zu suchen. Niemand möchte gelangweilt sein. Jene Schüler, die verletzt, "ausgebrannt" und entschlossen, "nichts" zu tun, auf die Schule kommen, beginnen unvermeidlich – wenn auch manchmal sehr langsam – ihr Leben als ihr eigenes anzusehen und sie begeben sich auf eine starke persönliche Suche nach ihren eigenen Interessen. Jene, deren leidenschaftliche Interessen von anderen geringgeschätzt oder durch die Notwendigkeit, im traditionellen Unterricht erfolgreich zu sein, eingeschränkt wurden, spüren wie aufregend die Freiheit ist, seinen Leidenschaften an Fairhaven zu folgen. Kleine Kinder, die zu Hause vom Fernsehen und von Video-Spielen fasziniert sind, durchleben oft eine Phase, in der sie ganz in ihre Leidenschaft vertieft sind, nur um herauszufinden, daß die Welt außerhalb ihres spezifischen Interesses unwiderstehlich faszinierend und voll von Herausforderungen ist. Kinder, die Heimunterricht hatten, suchen oft erst die Versicherung durch Erwachsene, und begeben sich dann in soziale Interaktion, indem sie als Unabhängige bewußt ihre mangelnde Erfahrung auf dem Gebiet der Freundschaft, der Konflikte und der Kooperation ausgleichen.

 

Wenn Schüler gelangweilt sind, regt Ihr sie dann an, etwas zu tun zu finden?

Fairhaven School:

Beinahe jeder erlebt Phasen von Langeweile an der Schule. Vor allem in den ersten Monaten des Besuchs durchleben Schüler, die gewohnt waren, daß andere bestimmen, wie sie ihren Tag verbringen, eine Phase, in der sie sich orientierungslos fühlen und manchmal die Hilfe von Erwachsenen suchen, um "etwas zu tun" zu finden. Mit Langeweile klarzukommen, ist eine der wichtigsten Sachen, die ein Schüler an Fairhaven tut. Und die Mitarbeiter wollen nicht in die Quere kommen mit dieser für den Schüler sehr günstigen Gelegenheit, wirklich anzufangen, schwierige Fragen zu stellen wie: "Was ist mir wichtig?" "Was möchte ich machen?" "Wer bin ich eigentlich?" "Warum kann ich nichts finden, das mich interessiert?" "Was muß ich tun, damit das und das passiert?" Unterhaltsame Aktivitäten anzubieten und Vorschläge zu machen, würde bedeuten, diese wichtigen Stufen des Übergangs zu einem wirklich selbstbestimmten, eigenmotivierten Erwachsensein auf später zu verschieben.

 

Was geschieht, wenn ein Schüler gar nichts tut?

Cedarwood Sudbury School:

Die Schule greift nicht ein, wenn ein Schüler nichts zu tun scheint. Manchmal braucht man einfach Zeit, um nachzudenken, zu spielen oder sich zu vergnügen. Früher oder später werden andere Bedürfnisse oder Interessen immer auftauchen.

 

Wenn Eure Schule Schüler nicht "mit Wissen in Berührung bringt", wie finden sie dann heraus, was sie möchten?

Cedarwood Sudbury School:

Unsere Schule setzt Schüler einer Menge Dinge aus. Am wichtigsten davon ist vielleicht die Erfahrung voller persönlicher Verantwortung. Da die Handlungen der Schüler freiwillig sind, wissen die Schüler, daß sie für die Konsequenzen die volle Verantwortung tragen. Ein gelangweilter, unzufriedener oder einfach neugieriger Schüler weiß, daß er allein dafür verantwortlich ist, die Initiative zu ergreifen. Zu den anderen wichtigen Dingen, denen unsere Schule sie aussetzt, gehören Freiheit, Respekt gegenüber anderen, direkte Demokratie, Betriebsführung und persönlicher Kontakt zu Leuten jeden Alters. Es gibt eine umfangreiche Bibliothek, die in allen Räumen ganze Wände einnimmt, und Zugang zum Internet. Außerdem gibt es sowohl unter den Schülern als auch den Mitarbeitern unterschiedlichste Individuen, die sich über viele Dinge unterhalten und viele Dinge tun. Wenn z.B. ein Schüler an einem Projekt arbeitet, ist es unvermeidbar, daß viele andere Schüler davon erfahren. Schüler und Mitarbeiter organisieren oft Ausflüge oder improvisieren Expeditionen, die den Schülern helfen, etwas über bestimmte Aspekte der "wirklichen Welt" zu erfahren. Und außerhalb der Schule werden die Schüler mit Informationen überflutet, durch die Medien, ihre Familie und Freunde, und einfach die Umgebung, mit der sie zu tun haben.

 

Wenn ihr ihnen nicht Mathe, Wissenschaften oder Geschichte beibringt, wie stellt ihr dann sicher, daß die Schüler überhaupt mit diesen Themen in Berührung kommen? Was, wenn Ihr einen Schüler habt, der ein großartiger Biologe sein könnte, er aber nie mitbekommt, daß dieses Gebiet überhaupt existiert?

Sudbury Valley School (Daniel Greenberg):

Die Schule sieht es nicht als ihre Aufgabe – ja noch nicht einmal als eine sinnvolle Aufgabe – an, sicherzustellen, daß Schüler mit irgend einer Auswahl von Themen in Berührung kommen. Die Anzahl der Wissensgebiete, denen in der Welt gegenwärtig auf eine produktive Art und Weise nachgegangen wird, ist so unermeßlich, daß es absurd ist zu versuchen, irgend jemanden mit ihnen allen in Berührung bringen zu wollen. Es ist eine Frage der individuellen Vorlieben und Abneigungen, eine kleine Auswahl von Themen herauszugreifen und sie für wichtiger als andere zu erachten. Die Frage, ob jemand ein großer Biologe, großer Musiker oder großer Was-auch-immer sein könnte, läßt sich nie beantworten. Dreh es einfach um und frage: "Was, wenn Mozart mit Arabischer Philosophie in Berührung gebracht worden wäre; vielleicht wäre er ein großer Historiker der Arabischen Philosophie geworden!", und die Einfalt der Berührungs-Frage wird deutlich. Die Anzahl der Bereiche ist enorm, mit denen man in Berührung kommt – genauso enorm wie die Zahl derer, mit denen man nicht zu tun bekommt. Welches Gebiet das Schicksal für einen als Lebensinhalt vorgesehen hat, kann niemand vorher wissen.

 

Wird ein Schüler im späteren Leben nicht im Nachteil sein, wenn er sich jetzt dafür entscheidet, ein wichtiges Thema zu ignorieren?

Cedarwood Sudbury School:

Die moderne Gesellschaft ist so vielfältig und verändert sich so schnell, daß es keine Möglichkeit gibt, vorherzusehen, welches Wissen man irgendwann braucht. Deshalb ist es unvermeidbar, daß unsere Schüler sich schließlich in Situationen wiederfinden werden, für die sie unzureichend vorbereitet sind – genauso wie die Absolventen traditioneller Schulen. Unsere früheren Schüler haben jedoch die Erfahrung gemacht, für ihre Bildung wirklich selber verantwortlich zu sein. An Cedarwood lehnen Schüler sich nicht zurück und warten darauf, daß jemand sie unterrichtet. Statt dessen entscheiden sie, was sie wissen müssen, und finden dann einen Weg, es zu lernen. Und das ist auch die Art, wie Erwachsene gewöhnlich etwas lernen; und sie ist effektiver, als zu versuchen, Wissen in der Hoffnung anzuhäufen, daß irgendwann etwas davon nützlich sein könnte. (Traurig zu sagen, daß die meisten von uns – die wir uns Monate und Jahre dem schriftlichen Dividieren, der Trigonometrie, dem Auseinandernehmen von Sätzen zwecks Bestimmung der grammatischen Einzelteile sowie Büchern, die einem zur Vorbereitung auf eine Prüfung helfen sollen, gewidmet haben – die Zeit hätten sinnvoller nutzen können.)

 

Was ist mit Chancengleichheit? Sollten nicht allen Schülern die gleichen Fähigkeiten gegeben werden?

Sudbury Valley School (Wayne Radinsky):

Sudbury Valley versucht nicht, irgendeine Reihe von Fähigkeiten zu "geben". Es hängt alles von der Motivation des Schülers ab – was will er lernen? Es wird jeder Versuch unternommen, den Schülern zu helfen, ihren Interessen zu folgen. Sie bekommen soviel Freiheit, wie ihre Motivation zuläßt, vorausgesetzt sie verletzt nicht die Freiheit der anderen Schüler. Traditionelle Schulen werden wie ein Fließbandbetrieb geleitet, mit dem Ziel, daß am Ende identische Produkte herauskommen. An Sudbury Valley gibt es keine Absicht, aus jedem das selbe zu machen oder jeden dazu zu bringen, irgendeine Kombination "grundlegender" Fähigkeiten zu lernen. Jeder einzelne entwickelt sich zu einer einzigartigen Persönlichkeit, und dieser Prozeß beginnt in einem erstaunlich jungen Alter.

 

Was für Schüler habt Ihr?

Cedarwood Sudbury School:

Die Schüler sind eine Gruppe völlig unterschiedlicher Persönlichkeiten. Ihre Leistungen unterstützen die Vorstellung, daß die meisten Menschen Nutzen daraus ziehen, diese Art von Schule zu besuchen. (Tatsächlich sind demokratische Gemeinschaften, die auf dem Respekt für den Einzelnen aufbauen, wahrscheinlich für Erwachsene ebenso wie für Kinder die beste Umgebung.) Einige Schüler würden an konventionellen Schulen als begabt bezeichnet werden, während andere als "Schüler mit besonderem Förderbedarf" angesehen würden. Die Schule würde auch gewöhnliche Kinder aufnehmen – wenn es solche Kinder überhaupt gäbe!

Will man ein Kind als Angehörigen einer bestimmten speziellen Gruppe charakterisieren, kann man über Gründe spekulieren, warum dieses Kind besonderen Nutzen davon haben könnte, unsere Schule zu besuchen. Zu solchen Gruppen gehören:

Mädchen. Viele Mädchen finden konventionelle Schulen übermäßig von Konkurrenzdenken geprägt und von Hierarchien dominiert, die auf Aussehen, sozialem Status und Geschlecht basieren. An Cedarwood gibt es keinen Wettbewerb um Zensuren, Anerkennung durch den Lehrer oder Positionen in einer Hierarchie. Statt dessen herrscht eine Atmosphäre von Kooperation und gegenseitigem Respekt.

Gelangweilte Schüler. Schüler können bei uns alles tun, was sie interessant finden.

Unterdrückte bzw. rebellische Schüler. Alle Regeln werden auf demokratische Weise in Kraft gesetzt und schriftlich niedergelegt, was den Schülern ein Gefühl von Besitz über die Regeln und die Schule selbst gibt. Das Bedürfnis zu rebellieren wird weiter reduziert durch die vollständige Kontrolle, die die Schüler über ihre eigenen Handlungen haben.

Schüler, bei denen das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/Hyperaktivität diagnostiziert wurde. Diese Schüler können sich (wie alle anderen) frei bewegen. Sie können auch Arten zu lernen und zu handeln finden, die für sie effektiv sind.

Antriebslose Schüler. Ein Schüler ohne Initiative wird sich wahrscheinlich so sehr langweilen, daß er etwas interessantes finden wird, mit dem er sich beschäftigen kann.

Schlecht behandelte Schüler. Es wäre sehr außergewöhnlich, wenn hier ein Schüler wegen seines Aussehens, seiner Interessen oder persönlichen Eigenschaften schlecht behandelt würde. Respekt gegenüber jedem ist ein Prinzip, das Mitarbeiter und Schüler ernst nehmen. Dieses Prinzip wird durch die überschaubare Personenzahl der Schule verstärkt, weil jeder jeden als ganze Person kennt, und nicht nur als Nummer oder Gesicht in der Masse.

Konzentrierte Schüler. Ein Schüler, der sich in seine Beschäftigung völlig vertiefen möchte, hat Zeit, Gelegenheit und Unterstützung, das zu tun.

Idealisten. Einige Eltern und Kinder bevorzugen einfach eine unterstützende, demokratische Gemeinschaft, in der Schüler Freiheit und echte Verantwortung haben.

 

Woher wißt Ihr, daß das wirklich funktioniert?

Fairhaven School

Abgänger von Sudbury Valley beweisen seit über 30 Jahren, daß dieses Modell funktioniert. Schüler, die keine Noten, keinen Rang innerhalb der Klasse, und teilweise überhaupt keinen formalen Unterricht haben, werden nach wie vor auf gute Colleges aufgenommen (aufgrund ihrer schriftlichen und persönlichen Vorstellung und, wo nötig, aufgrund ihrer Testergebnisse), sind erfolgreich in ihrer Kurs-Arbeit (oft müssen sie bestimmten Stoff "aufholen", aber sie haben die Kraft und das Selbstvertrauen, dies leicht zu schaffen), und machen verschiedene interessante Karrieren. Jene, die sich entschieden haben, nicht aufs College zu gehen (etwa 20%) sind erfolgreiche Künstler, Handwerker, Händler, Musiker und Geschäftsleute geworden. Weiterhin sind Abgänger von Sudbury Schools sich klar ausdrückende, verantwortungsbewußte, unvoreingenommene Erwachsene, die – da sie ihre Bildung nie als die Verantwortung eines anderen, sondern als ihre eigene angesehen haben – weiter am Leben beteiligt sind und für den Rest ihres Lebens neue Sachen lernen.

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III. Zurück zu den Grundlagen

von Daniel Greenberg

Warum geht man zur Schule?

Für Menschen, die gewohnt sind, die im Leben wichtigen Fragen selbst zu durchdenken, steht Sudbury Valley für eine Herausforderung an die üblichen Antworten.

Intellektuelle Grundlagen

Der erste Gedanke, der einem in den Sinn kommt, ist: "Wir gehen zur Schule, um zu lernen." Das ist das intellektuelle Ziel. Es kommt vor all den anderen Zielen. So sehr, daß "Bildung bekommen" gleichbedeutend mit "Lernen" geworden ist – etwas eng gefaßt, sicher, aber die Prioritäten werden deutlich.

Warum lernen die Leute dann nicht mehr in Schulen? Warum all die Klagen? Warum der scheinbar grenzenlose Aufwand, wenn man doch ständig nur auf der Stelle tritt, ohne daß von Fortschritt die Rede sein könnte?

Die Antwort ist erschreckend einfach. Schulen sind heutzutage Institutionen, in denen man unter "Lernen" "unterrichtet werden" versteht. Die Menschen sollen etwas lernen? Unterrichte sie! – Sie sollen mehr lernen? Unterrichte sie mehr! Und mehr! Laß sie härter arbeiten! Laß sie länger üben!

Aber Lernen ist ein Prozeß, den man tut, nicht ein Prozeß, der an einem getan wird. Das gilt für alle Menschen. Es ist elementar.

Wie kommt es, daß Menschen lernen? Seltsam, das zu fragen. Vor über 2 000 Jahren begann Aristoteles sein bedeutendstes Buch mit der allgemein akzeptierten Antwort: "Der Mensch ist von Natur aus neugierig." Descartes machte es etwas anders, ebenfalls am Anfang seines größten Werkes: "Ich denke, also bin ich." Lernen, Denken, aktiv sein Gehirn benutzen – das ist das Wesen des Menschseins. Das ist natürlich.

Es ist sogar stärker als die großen Triebe – Hunger, Durst, Sex. Wenn man von etwas gefesselt ist – das entscheidende Wort ist "gefesselt" –, dann vergißt man all die anderen Triebe, so lange, bis sie einen überwältigen. Wie schon seit langem bekannt ist, verhält sich das selbst bei Ratten nicht anders.

Wer würde auf die Idee kommen, Menschen zum Essen, zum Trinken oder zum Sex zu zwingen? (Ich spreche natürlich nicht von Menschen, die eine spezifische Behinderung haben, die ihre Triebe beeinträchtigt. Was ich hier schreibe, bezieht sich auch nicht auf Menschen, die spezifische geistige Beeinträchtigungen haben, auf welche in besonderer, medizinischer Weise eingegangen werden muß.) Niemand steckt das Gesicht von Menschen alle Stunde in Schüsseln voll Essen, um sicherzustellen, daß sie essen; niemand sperrt Leute acht Stunden am Tag mit Partnern zusammen, um sicherzustellen, daß sie sich paaren.

Das klingt lächerlich? Wieviel lächerlicher ist es dann, Leute zu etwas zwingen zu wollen, das – stärker noch als alles andere – absolut natürlich ist! Und jeder weiß doch, wie ausgeprägt diese überwältigende Neugier ist. Alle Bücher über Kindererziehung geben sich große Mühe, Eltern beizubringen, wie sie ihre kleinen Kinder von etwas abhalten können – besonders, wenn sie erst einmal anfangen zu laufen. Wir stehen nicht herum und drängen unsere einjährigen Kinder, ihre Umwelt zu erkunden. Im Gegenteil, wir werden unruhig, wenn sie unser Haus auseinandernehmen; wir versuchen immer, sie anzugurten und sie in Laufgitter einzusperren. Und je älter sie werden, um so mehr "stellen sie an". Hast du es jemals mit einem Zehnjährigen zu tun gehabt? Oder mit einem Teenager?

Menschen gehen zur Schule, um zu lernen. Zum Lernen müssen sie in Ruhe gelassen werden und Zeit haben. Wenn sie Hilfe brauchen, sollte sie ihnen gegeben werden – wenn wir wollen, daß Lernen seinen eigenen natürlichen Lauf nimmt. Aber Vorsicht: Wenn jemand entschlossen ist zu lernen, wird er alle Hindernisse überwinden und lernen, egal was passiert. Man muß also nicht helfen; Hilfe beschleunigt den Prozeß nur etwas. Hindernisse zu überwinden ist eine der Hauptaktivitäten beim Lernen. Es schadet nicht, ein paar übrigzulassen.

Aber wenn man jemanden bedrängt, wenn man darauf besteht, daß er sein natürliches Lernen unterbricht und statt dessen von 9 bis 9.50 Uhr, von 10 bis 10.50 Uhr und so weiter das tut, was du willst, wird er nicht nur die Dinge nicht lernen, für die er sich interessiert, sondern er wird auch dich hassen, dich und alles hassen, was du ihm aufzwingst. Und er wird alle Lust am Lernen verlieren, zumindest vorübergehend.

Immer wenn du an eine Klasse in einer jener Schulen da draußen denkst, stell dir einfach vor, der Lehrer würde jedem Schüler Spinat, Milch, Karrotten und Keimlinge (alle diese "guten Sachen") reinwürgen, sie mit Hilfe eines großen Stockes den Hals hinunterstopfen.

Sudbury Valley läßt ihre Schüler in Ruhe. Pause. Kein Aber. Keine Ausnahmen. Wenn wir gefragt werden, helfen wir, falls wir können. Wir mischen uns nicht ein. In erster Linie kommen die Leute zum Lernen her. Und genau das tun sie – jeden Tag, den ganzen Tag.

Berufliche Grundlagen

Als nächstes nach "Lernen" kommt immer die unangenehme Pflicht "zur Schule zu gehen" zur Sprache. Wenn es drauf ankommt, ist es den meisten Leute ziemlich egal, was oder wieviel sie oder ihre Kinder in der Schule lernen, solange sie in der Lage sind, eine gute Karriere zu machen – einen guten Job zu bekommen. Das heißt Geld, Status, Aufstieg. Je besser der Job, den man kriegt, um so besser die Schule, auf der man war.

Das ist der Grund, warum Phillips Andover oder Harvard so hoch eingestuft werden. Harvard-Studenten steigen in jedem Beruf auf. Dafür sind sie dankbar, und wenn sie älter sind, dann zeigen sie dies, indem sie das beste, was sie zu bieten haben, den neuen Studenten widmen, und indem sie Harvard große Summen spenden. Bei Yale, Dartmouth und all den anderen ist das nicht anders.

Welche Art von Schule ist heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, am besten in der Lage, einen Schüler für eine gute Karriere vorzubereiten?

Die Antwort ist wirklich nicht schwer. Alle schreiben darüber. Die Schüler erwartet das postindustrielle Zeitalter, das Informationszeitalter, das Dienstleistungszeitalter, das Zeitalter von Vorstellungskraft, Kreativität und Unternehmertum. Die Zukunft gehört Leuten, die in der Lage sind, Dinge zu handhaben, zu gestalten, zu formen, zu organisieren, mit neuem Material umzugehen und mit altem, mit neuen Ideen und mit alten, mit neuen Fakten und mit alten.

Derartige Aktivitäten kommen in gewöhnlichen Schulen nicht vor, nicht mal außerhalb des Unterrichts, geschweige denn den ganzen Tag lang.

Gewissermaßen besteht bei Sudbury Valley der gesamte "Lehrplan" nur aus diesen Aktivitäten.

Hört sich das weit hergeholt an? Für ein ungeübtes Ohr vielleicht. Aber Geschichte und Erfahrung geben uns Recht. Wie sonst sollte man die Tatsache erklären, daß alle unsere Abgänger, die ihre Bildung auf einem College oder einer Graduate School fortsetzen wollen, das immer – keinen einzigen ausgenommen – schaffen, meist an der Schule ihrer Wahl? Ohne Prüfungslisten, Protokolle, Berichte, mündliche oder schriftliche Empfehlungen. Was sehen die Zulassungsleute am College in diesen Schülern? Warum werden sie angenommen – reißt man sich oft sogar um sie? Warum nehmen diese erfahrenen Leute, die in "Einser"-Durchschnitten, glühenden Briefen von Lehrern, hohen SAT-Punktzahlen (SAT = Scholastic Aptitude Test) nur so schwimmen, warum nehmen sie Sudbury-Valley-Schüler?

Natürlich kennst du die Antwort, auch wenn sie schwer einzugestehen ist; sie ist zu sehr gegen die üblichen Vorstellungen: Diese geübten Profis haben in unseren Schülern fröhliche, aufgeweckte, selbstsichere, kreative Köpfe erkannt – den Traum jeder weiterführenden Schule bzw. Universität.

Die Aufzählung spricht für sich. Unsere Schüler sind in einem weiten Feld von Berufen (oder Schulen, im Fall der jüngeren Abgänger) tätig. Sie sind Ärzte, Tänzer, Musiker, Geschäftsleute, Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller, Automechaniker, Handwerker ... Unnötig, fortzufahren. Du kannst sie treffen, wenn du willst.

Wenn heute jemand zu mir käme und fragen würde: "Zu welcher Schule soll ich mein Kind schicken, wenn ich sichergehen will, daß es die besten Chancen für beruflichen Aufstieg im Fachgebiet seiner Wahl erhält?", dann würde ich ohne das geringste Zögern antworten: "Sudbury Valley ist für diesen Zweck die beste Schule im Land." Leider ist sie zur Zeit der einzige Typ von Schule, der diese Aufgabe erfüllt und die Zukunft im Blick hat.

Was Berufe angeht, hat Sudbury Valley der Zukunft die Stirn geboten und damit Erfolg gehabt. Es ist nicht länger notwendig, in der Vergangenheit rumzuwühlen.

Moralische Grundlagen

Jetzt kommen wir zu einem sensiblen Thema. "Schulen sollen gute Menschen hervorbringen." Das ist ein ziemlicher Allgemeinplatz. Natürlich will niemand, daß Schulen schlechte Menschen hervorbringen.

Aber wie macht man gute Menschen? Das ist der Haken. Ich wage zu sagen, daß niemand die Antwort wirklich kennt, jedenfalls soweit ich das um mich herum sehe. Aber zumindest haben wir etwas Ahnung davon. Wir wissen, und haben (wieder einmal) aus der Erfahrung vergangener Zeiten gelernt, was die unverzichtbare Zutat für moralisches Handeln ist – die Zutat, ohne die Handlungen im besten Fall amoralisch, im schlechtesten unmoralisch sind.

Dieser Bestandteil ist persönliche Verantwortung.

Jedes ethische Verhalten setzt sie voraus. Um ethisch zu sein, muß man in der Lage sein, einen Weg auszuwählen und die volle Verantwortung für die Entscheidung und deren Folgen zu akzeptieren. Man kann nicht in Anspruch nehmen, ein passives Instrument des Schicksals, von Gott, von anderen Leuten oder höherer Gewalt zu sein. Solch ein Anspruch würde sofort dazu führen, daß alle Unterschiede zwischen Gut und Böse sinnlos und inhaltsleer werden. Der Ton, aus dem der schönste Topf der Welt geformt wurde, kann keinen Anspruch erheben, Ursache der Schönheit dieses Topfes zu sein.

Ethik geht von der Grundidee aus, daß ein Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist. Das ist eine Tatsache. Schulen können das nicht ändern, aber entweder anerkennen oder leugnen.

Leider entscheiden sich heutzutage praktisch alle Schulen dafür, zu leugnen, daß Schüler für ihre Handlungen persönlich verantwortlich sind – auch wenn die Leiter dieser Schulen Lippenbekenntnisse für dieses Konzept abgeben. Die Leugnung ist dreifacher Art: Schulen erlauben ihren Schülern nicht, Handlungsabläufe vollständig selbst zu bestimmen, sie erlauben Schülern nicht, den einmal gewählten Weg zu verwirklichen, und sie erlauben Schülern nicht, die Konsequenzen dieses Weges zu tragen. Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit und die Freiheit, die Folgen des Handels zu tragen – das sind die drei großen Freiheiten, die persönliche Verantwortung ausmachen.

Es ist ja bekannt, daß es zu den grundsätzlichen Verfahrensweise der Schulen gehört, die Wahl- und Handlungsfreiheit einzuschränken. Aber ist es verwunderlich, daß Schulen die Freiheit, die Folgen der eigenen Handlungen zu tragen, einschränken? Das sollte es nicht. Es ist zu einem Grundsatz moderner Pädagogik geworden, daß die Psyche eines Schülers in dem Maß Schaden nehme, wie sie auf das doppelte Übel von Ablehnung und Erfolglosigkeit trifft. "Erfolg führt zum Erfolg", heißt es heute: ermutigen, niemanden vor den Kopf stoßen, enttäuschende Rückschläge vermeiden; die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Daß unsere Schulen nicht für ethische Ausbildung bekannt sind, ist kein Wunder. Ihr Versagen entschuldigen sie, indem sie sagen, daß Wertevermittlung in die Elternhäuser gehöre. Sicher, das tut sie. Aber schließt es sie deshalb aus der Schule aus?

Zurück zu den Grundlagen. Bei Sudbury Valley ist es um diese drei Freiheiten gut bestellt. Jeder trägt für sich selbst die Verantwortung. Verantwortung ist universell, immer gegenwärtig, real. Wenn du irgend einen Zweifel daran hast, komm vorbei und sieh dir die Schule an! Schau dir an, was die Schüler so tun. Studiere das Justizsystem. Erlebe mit, wie ein Schüler in der Abschlußprüfung eine Versammlung von Mitschülern davon überzeugen muß, daß er bereit ist, in der Gesellschaft für sich selbst verantwortlich zu sein, so wie er es auch an der Schule gewesen ist.

Bringt Sudbury Valley gute Menschen hervor? Ich denke, ja. Und schlechte auch. Aber sowohl die guten als auch die schlechten haben zu jeder Zeit persönlich Verantwortung für ihre Taten übernommen, und ihnen wird klar, daß sie für ihre Taten voll verantwortlich und haftbar sind. Das ist es, was Sudbury Valley auszeichnet.

Soziale Grundlagen

Vor einiger Zeit kam es in Mode, unsere Schulen zu bitten, auf die soziale Anpassung der Schüler zu achten. Ihnen beizubringen, wie man zurechtkommt; unsere Gesellschaft von sozialen Mißständen zu befreien, indem man in jungen Jahren Einfluß nimmt, nämlich in der Schule. Ein hochgestecktes Ziel? Vielleicht. Aber wieviele Leute haben sich abgemüht mit Schulberichten über ihre eigene gesellschaftliche Anpassung, oder die ihrer Kinder, bzw. über deren Fehlen! Ist es nicht seltsam, wie sehr den Leuten ihre Sachen manchmal mißlingen? Ich meine, Menschen sozialisieren zu wollen, ist schon schwer genug; die Schulen aber scheinen dieses Ziel schon fast methodisch zu verfehlen.

Nehmen wir zunächst mal die Trennung nach dem Alter. Welches Genie hat sich umgeschaut und ist auf die Idee gekommen, daß es sinnvoll wäre, die Menschen streng nach ihrem Alter auseinanderzuhalten? Findet solch eine Einteilung irgendwo von Natur aus statt? Arbeiten in der Industrie alle 21jährigen getrennt von den 20jährigen oder den 23jährigen? Gibt es in der Geschäftswelt getrennte Räume für 30jährige Angestellte und für 31jährige? Bleiben auf dem Spielplatz Zweijährige den Einjährigen und Dreijährigen fern? Wo, wo auf Erden wurde diese Idee ausgebrütet? Gibt es irgendetwas, das sozial schädlicher ist, als Kinder 14 – oft 18 – Jahre lang nach Jahrgängen zu sortieren?

Oder nimm die häufig anzutreffende Geschlechtertrennung, die es auch in koedukativen Schulen für zahlreiche Aktivitäten gibt.

Oder die große Kluft zwischen Kindern und Erwachsenen – hast du mal beobachtet, wie verbreitet es unter Kindern ist, Erwachsenen nicht in die Augen zu sehen?

Und jetzt betrachten wir mal die gesellschaftliche Situation, die für Kinder innerhalb ihrer eigenen Altersgruppe geschaffen wurde. Wenn die Schulen einem Zwölfjährigen schon normale menschliche Beziehung zu Elfjährigen, Dreizehnjährigen, Erwachsenen, usw. geradezu unmöglich machen, wie werden wohl die Beziehungen zu anderen Zwölfjährigen aussehen?

Keineswegs besser. Die hauptsächliche, fast ausschließliche Beziehungsform, die in der Schule unter Schülern einer Klasse gepflegt wird, ist – Konkurrenz! Ruinöser Wettbewerb! Die Hackordnung kommt an erster Stelle. Wer ist besser, schlauer, schneller, größer, hübscher – und natürlich: Wer ist schlechter, dümmer, langsamer, kleiner, häßlicher?

Hätte man jemals ein System entwerfen wollen, das Konkurrenz, Unbeliebtheit, Unsicherheit, Paranoia und soziale Mißstände erzeugt, die jetzigen Schulen wären seine Verwirklichung.

Zurück zu den Grundlagen. Im wirklichen Leben ist Kooperation das wichtigste soziale Merkmal für eine stabile, gesunde Gesellschaft. In der realen Welt ist die wichtigste Form von Wettbewerb der gegen sich selbst, gegen Ziele, die man sich selbst gesetzt hat, um voranzukommen. In der realen Welt ist eine zwischenmenschliche Konkurrenz um ihrer selbst willen allgemein als sinnlos und destruktiv erkannt – selbst in großen Konzernen und im Sport.

In der realen Welt – und in der Sudbury Valley School, die eine Schule für die reale Welt ist.

Politische Grundlagen

Wir halten es für selbstverständlich, daß Schulen die Entwicklung zu einem guten Bürger begünstigen sollten. Allgemeinbildung hat besonders in diesem Land immer auch sehr darauf geachtet, aus uns allen gute Amerikaner zu machen.

Wir alle wissen, wofür Amerika steht. Unsere Gründerväter haben die Grundprinzipien klar dargelegt. Und sie wurden seitdem ständig weiterentwickelt.

Dieses Land ist eine demokratische Republik. Es gibt keinen König, keinen Hofstaat, keinen Adel, keine vorgegebene Hierarchie, keinen Diktator. Es gibt eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk. In politischen Angelegenheiten entscheidet die Mehrheit. Alle Betroffenen können mitentscheiden.

Dieses Land ist ein Land der Gesetze. Es gibt keine willkürlichen Herrscher, keine launische Regierung, die mal gibt, mal nimmt. Es gibt rechtsstaatliche Prozesse.

In diesem Land haben die Menschen Rechte – angeborene Rechte. Unseren Vorvätern haben diese Rechte so viel bedeutet, daß sie sich weigerten, die Verfassung ohne einen Grundrechtekatalog zu unterschreiben, der sofort hinzugefügt wurde.

Mit all diesem Wissen würden wir erwarten – nein, darauf bestehen, sollte man meinen – daß die Schulen, wenn sie den Schülern beibringen wollen, produktiv zur politischen Stabilität und Entwicklung Amerikas beizutragen, folgende Eigenschaften haben müssen:

– demokratisch und nicht autokratisch zu sein,

– mit klaren Regeln regiert zu werden und rechtsstaatlich zu sein,

– Schützer der Persönlichkeitsrechte der Schüler zu sein.

Ein Schüler, der in einer Schule mit diesen Merkmalen aufwächst, wäre befähigt, konstruktives Mitglied der Gesellschaft zu sein.

Tatsächlich aber fallen die Schulen durch das Fehlen eines jeden dieser drei zentralen amerikanischen Werte auf.

Sie sind autokratisch – alle von ihnen, sogar die sogenannten progressiven Schulen.

Ihnen fehlen klare Richtlinien. Und rechtsstaatliche Verfahren abzuhalten, wie es sonst bei beschuldigten Regelverletzern üblich ist, ist ihnen völlig unbekannt.

Sie erkennen die Rechte von Minderjährigen nicht an.

So ist es bei allen – außer Sudbury Valley, die auf diesen drei Prinzipien aufgebaut wurde.

Ich denke, man kann sicher sagen, daß die individuellen Freiheiten, die von unseren Vorfahren und von jeder der nachfolgenden Generationen so wertgeschätzt wurden, niemals wirklich gesichert sein werden, solange unsere Jugend in der Schule keine Umgebung findet, die diese amerikanischen Wahrheiten verkörpert, gerade auch für die entscheidenden Jahre, in denen sich ihr Verstand und ihr Geist formen.

Zurück zu den Grundlagen

Man sieht also, Sudbury Valley wurde 1968 von Leuten gegründet, die sehr intensiv über Schulen nachgedacht haben, darüber, wie Schulen sein und was sie tun sollten, darüber, worum es in Amerika bei Bildung heutzutage überhaupt geht.

Wir gingen zurück zu den Grundlagen; und wir blieben ihnen treu. Und wir haben diese Grundlagen vor allen Versuchen, sie zu gefährden, beschützt wie unseren Augapfel. Auch unsere Nachfolger müssen sie weiter bewachen. Intellektuelle Kreativität, berufliche Brillanz, persönliche Verantwortung, gesellschaftliche Toleranz, politische Freiheit – all das sind die besten Schöpfungen des menschlichen Geistes. Sie sind zarte Blüten, die beständige Pflege erfordern.

Alle von uns, die in Verbindung mit Sudbury Valley stehen, sind stolz darauf, zu dieser Pflege beizutragen.

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IV. Endlich frei

Daniel Greenberg

Kapitel 1

und Arithmetik

Vor mir saß ein Dutzend Mädchen und Jungen zwischen neun und zwölf Jahren. Eine Woche zuvor hatten sie mich gebeten, sie in Arithmetik zu unterrichten. Sie wollten Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren, Dividieren und all das andere lernen.

"Ihr wollt das doch nicht wirklich", sagte ich, als sie mich das erste Mal fragten.

"Wir wollen es, sicher wollen wir es", war ihre Antwort.

Ich blieb dabei: "Nicht wirklich. Wahrscheinlich wollen eure Freunde aus der Nachbarschaft, eure Eltern oder eure Verwandten, daß ihr es tut, aber ihr selber wollt doch lieber spielen oder irgend etwas anderes tun."

"Wir wissen, was wir wollen; und wir wollen Arithmetik lernen. Unterrichte uns, und wir beweisen es. Wir werden all die Hausaufgaben machen und so hart arbeiten, wie wir können."

Auch wenn ich skeptisch war, ich mußte nachgeben. Ich wußte, daß Arithmetik in gewöhnlichen Schulen sechs Jahre in Anspruch nahm, und ich war sicher, daß ihr Interesse nach ein paar Monaten nachlassen würde. Aber ich hatte keine Wahl. Sie hatten darauf bestanden, und ich war in die Enge getrieben.

Mich erwartete eine Überraschung.

Mein größtes Problem war, ein Lehrbuch zu finden, das ich als Leitfaden benutzen könnte. Ich war an der Entwicklung des "Neuen Mathe" beteiligt gewesen und hatte angefangen, es zu hassen. Damals, als wir daran arbeiteten, hatten wir kaum Zweifel – junge Akademiker während der Zeit, als Kennedy Präsident war und der russische Sputnik Erfolg hatte. Wir waren erfüllt von der Schönheit abstrakter Logik, von Mengenlehre, Zahlentheorie und von all den anderen exotischen Spielen, die Mathematiker seit Jahrtausenden spielen. Hätte man uns beauftragt, einen Landwirtschaftskurs für Landarbeiter zu gestalten, hätten wir wohl mit Organischer Chemie, Genetik und Mikrobiologie angefangen. Aber die hungernden Menschen dieser Welt hatten Glück, daß wir nicht gefragt wurden.

Ich hatte angefangen, die Anmaßungen und die Abstrusität des "Neuen Mathe" zu hassen. Nicht einer von hundert Lehrern wußte, wovon es handelte, und nicht einer von tausend Schülern. Die Menschen brauchen Arithmetik zum Rechnen und Schätzen; sie wollen wissen, wie man die Hilfsmittel benutzt. Das war es, was meine Schüler jetzt wollten.

In unserer Bibliothek fand ich ein Buch, das dafür perfekt geeignet war. Es war eine Mathe-Fibel aus dem Jahr 1898. Klein, dick, und randvoll mit Tausenden von Aufgaben, gedacht, um den Geist junger Menschen darauf zu trainieren, grundlegende Aufgaben schnell und korrekt zu lösen.

Der Unterricht begann – pünktlich. Das war Teil der Abmachung. "Ihr sagt, daß ihr es ernst meint?", hatte ich gefragt, um sie herauszufordern, "dann erwarte ich, Euch pünktlich im Raum zu sehen – Punkt 11, jeden Dienstag und Donnerstag. Wenn ihr fünf Minuten zu spät seid, fällt der Unterricht aus. Wenn ihr ihn zwei Mal ausfallen laßt, gibt es keinen weiteren Unterricht." "Abgemacht", hatten sie gesagt, mit einem Glänzen vor Freude in ihren Augen.

Die Grundzüge der Addition dauerten zwei Unterrichtsstunden. Sie lernten, alles mögliche zu addieren: dünne lange Spalten, kurze dicke Spalten, lange dicke Spalten. Sie rechneten dutzende Aufgaben. Die Subtraktion nahm zwei weitere Unterrichtsstunden in Anspruch. Man hätte es in einer schaffen können, aber das Merken der Übertragszahlen erforderte etwas zusätzliche Erläuterung.

Weiter ging es mit Multiplikation und dem "Einmaleins". Das "Einmaleins" mußten alle auswendiglernen. Jeder wurde immer und immer wieder im Unterricht abgefragt. Dann kamen die Regeln und dann die Übung.

Sie waren begeistert, jeder von ihnen. Sie kamen voran, beherrschten all die Techniken und Algorithmen; sie konnten fühlen, wie der Stoff ihre Körper durchdrang. Hunderte und Aberhunderte von Aufgaben, Abfragen und mündlichen Tests hämmerten den Stoff in ihren Kopf.

Und sie kamen immer noch, jeder von ihnen. Wenn nötig, halfen sie sich gegenseitig, damit der Unterricht vorankommen konnte. Die Zwölfjährigen und die Neunjährigen, die Löwen und die Lämmer, sie saßen friedlich zusammen in harmonischer Kooperation – kein gegenseitiges Ärgern, keine Scham1.

Division – schriftliche Division. Brüche. Dezimalbrüche. Prozentsätze. Wurzeln.

Sie kamen pünklich um 11, blieben eine halbe Stunde und gingen mit Hausaufgaben. Wenn sie das nächste Mal kamen, hatten sie all die Hausaufgaben gemacht, jeder von ihnen.

In 20 Wochen, nach 20 gemeinsamen Stunden, hatten sie alles geschafft, den Stoff von sechs Jahren. Jeder einzelne konnte den Stoff im Schlaf.

Wir feierten das Ende des Kurses mit einer rauschenden Party. Es war nicht das erste Mal und sollte auch nicht das letzte Mal sein, daß ich vom Erfolg unserer so geschätzten Theorie ergriffen war. Sie hatte funktioniert, mit überragendem Erfolg.

Vielleicht hätte ich mich auf das, was geschah – auf das, was mir ein Wunder zu sein schien – vorbereiten sollen. Eine Woche, nachdem das alles zu Ende war, sprach ich mit Alan White, der jahrelang Spezialist für Anfänger-Mathe in staatlichen Schulen war und die neuesten und besten pädagogischen Methoden kannte.

Ich erzählte ihm die Geschichte von meinem Kurs.

Er war nicht überrascht.

"Warum nicht?", fragte ich, erstaunt über seine Antwort. Ich war immer noch benommen von der Geschwindigkeit und Gründlichkeit, mit der meine zwölf gelernt hatte.

"Jeder weiß doch", antwortete er, "daß der Stoff an sich gar nicht so schwer ist. Das schwierige, praktisch unmögliche, ist, diesen Stoff in den Kopf von jungen Menschen zu bekommen, die jeden Schritt hassen. Der einzige Weg, mit dem wir den Hauch einer Chance haben, besteht darin, ihnen jahrelang jeden Tag ein kleines Stück vorzusetzen. Aber selbst dann klappt es nicht. Gib mir ein Kind, das den Stoff lernen möchte – ja, 20 Stunden oder so, das macht Sinn."

Ich denke, das tut es. Es hat noch nie wesentlich länger gedauert.

Kapitel 2

Unterricht

Mit Wörtern müssen wir vorsichtig umgehen. Es ist ein Wunder, wenn sie für zwei beliebige Menschen jemals das gleiche bedeuten. Meist ist das nicht der Fall. Wörter wie "Liebe", "Frieden", "Vertrauen" und "Demokratie" – jeder bringt diesen Wörtern eine Lebenserfahrung, eine Weltanschauung, entgegen, und wir wissen, wie selten wir diese mit anderen gemeinsam haben.

Nehmen wir das Wort "Unterricht". Ich weiß nicht, was es in Kulturen bedeutet, die keine Schulen haben. Vielleicht gibt es bei ihnen dieses Wort überhaupt nicht. Den meisten Leuten, die es lesen, vermittelt es eine Fülle von Bildern: Einen Raum, in dem sich "Lehrer" und "Schüler" befinden. Die Schüler sitzen an Tischen und erhalten vom Lehrer "Anweisungen". Dieser sitzt oder steht vor ihnen. Und es vermittelt noch mehr: eine "Unterrichtsstunde", die feste Zeit, zu der der Unterricht stattfindet; Hausaufgaben; ein Lehrbuch, in dem der Unterrichtsstoff für alle Schüler klar dargelegt ist.

Und es vermittelt noch mehr: Langeweile, Frustration, Erniedrigung, Leistung, Versagen, Konkurrenz.

An Sudbury Valley bedeutet dieses Wort etwas ganz anderes.

Hier ist Unterricht eine Vereinbarung zwischen zwei Seiten. Es fängt mit einer oder mehreren Personen an, die sich entscheiden, etwas bestimmtes lernen zu wollen – sagen wir Algebra, oder Französisch, Physik, Rechtschreibung oder Töpfern. In vielen Fällen finden sie heraus, wie sie es alleine lernen können. Sie finden ein Buch oder ein Computerprogramm, oder sie schauen jemandem zu. Wenn das passiert, ist es kein Unterricht. Dann ist es einfach Lernen.

Dann gibt es Fälle, in denen sie es nicht alleine tun können. Sie suchen jemanden, der ihnen helfen kann, jemanden, der einverstanden ist, ihnen genau das zu geben, was sie wollen, damit das Lernen stattfindet. Wenn sie diese Person finden, schließen sie ein Abkommen: "Wir machen das und das, und du machst dies und jenes – okay?" Wenn alle Seiten einverstanden sind, haben sie gerade einen Kurs ins Leben gerufen.

Die, die das Abkommen anregen, werden "Schüler" genannt. Wenn sie sich nicht kümmern, gibt es keinen Unterricht. Meistens finden die Kinder an der Schule selbst heraus, was sie lernen wollen und wie sie es eigenständig lernen können. Unterricht gibt es nicht allzu oft.

Derjenige, der das Abkommen mit den Schülern eingeht, wird "Lehrer" genannt. Lehrer können auch andere Schüler der Schule sein. Normalerweise sind es Honorarkräfte, die für diesen Job eingestellt werden.

Lehrer an Sudbury Valley müssen bereit sein, Abkommen einzugehen, Abkommen, die die Bedürfnisse der Schüler befriedigen. Es gibt viele Leute, die der Schule schreiben, daß sie als Lehrer eingestellt werden wollen. Viele von ihnen erzählen uns lang und breit, wieviel sie Kindern "geben" müssen. Solche Leute sind für die Schule nicht geeignet. Uns ist wichtig, was die Schüler nehmen wollen – nicht, was die Lehrer geben wollen. Für viele professionelle Lehrer ist das schwer zu verstehen.

Die Unterrichts-Abmachungen beinhalten alle möglichen Angaben: Inhalt und Zeiten, Pflichten der beiden Seiten. Zum Beispiel muß der Lehrer, um das Abkommen zu schließen, sich bereiterklären, sich zu bestimmten Zeiten mit den Schülern zu treffen. Diese Zeiten können feste Zeiträume sein: eine halbe Stunde jeden Dienstag um 11 Uhr. Oder sie können flexibel sein: "Wann immer wir Fragen haben, treffen wir uns montags um 10, um sie zu bearbeiten. Wenn wir keine Fragen haben, treffen wir uns erst nächste Woche." Manchmal wird ein Buch ausgesucht, das als Anknüpfungspunkt dienen soll. Für die Schüler ist es Bestandteil der Abmachung zu kommen. Sie stimmen z.B. zu, pünktlich da zu sein.

Kurse enden, wenn eine Seite genug von der Abmachung hat. Wenn die Lehrer herausfinden, daß sie das gewünschte nicht anbieten können, dann können sie sich zurückziehen – und die Schüler müssen, wenn sie den Kurs immer noch wollen, einen anderen Lehrer finden. Wenn die Schüler merken, daß sie nicht weitermachen wollen, müssen die Lehrer sich etwas anderes suchen, womit sich während der verabredeten Zeit beschäftigen.

Hin und wieder gibt es an der Schule noch eine andere Art von Unterricht. Dies ist dann der Fall, wenn Leute glauben, etwas Neues und Einzigartiges mitteilen zu müssen, das man nicht in Büchern findet und von dem sie glauben, daß es andere interessieren könnte. Sie bringen einen Zettel an: "Wer an demunddem interessiert ist, kann mich am Donnerstag um 10.30 Uhr im Seminarraum treffen", und warten. Wenn Leute kommen, dann geht’s los. Wenn nicht, dann eben nicht. Leute können auch beim ersten Mal kommen und, wenn es ein zweites Mal gibt, sich entscheiden, nicht wieder hinzugehen.

Ich habe so etwas einige Male gemacht. Beim ersten Treffen finden sich gewöhnlich recht viele ein: "Mal sehen, was er zu sagen hat." Beim zweiten Mal kommen schon weniger. Schließlich habe ich eine kleine Gruppe, die sich wirklich dafür interessiert, was ich zu dem Thema zu sagen habe. Für sie ist es eine Art von Unterhaltung, und für mich (und andere) ein Weg, die anderen wissen zu lassen, wie wir denken.

Kapitel 3

Ausdauer

Es ist schon wieder eine Frage der Wörter. So, wie ich es gerade beschrieben habe, klingt Lernen beiläufig, unverbindlich, zurückgelehnt. Heute so, morgen so. Zufällig. Chaotisch. Undiszipliniert.

Oft wünschte ich, daß es so wäre.

Gleich als die Schule eröffnet wurde, schrieb sich der 13jährige Richard ein, und war bald nur noch mit klassischer Musik beschäftigt – und mit Trompetespielen. Nach kurzer Zeit war sich Richard sicher, daß er das Interesse seines Lebens gefunden hatte. Mit Jan, einem Trompeter, einem an der Schule tätigen Lehrer, der ihm helfen konnte, stürzte er sich in sein Studium.

Richard spielte jeden Tag vier Stunden Trompete. Wir konnten es kaum glauben. Wir schlugen ihm andere Aktivitäten vor, aber es nutzte nichts. Was auch immer Richard machte – und er machte viel an der Schule –, er fand immer vier Stunden zum Trompetespielen.

Er kam aus Boston. 1 ¼ Stunde Weg jeden Morgen und jeden Nachmittag, oft eine halbe Stunde oder mehr zu Fuß von der Busstation in Framingham. Wie der sprichwörtliche Briefträger: bei Regen oder Sonnenschein, bei Hagel oder Schnee, Richard kam zur Schule und strapazierte unsere Trommelfelle.

Bald darauf entdeckten wir die Vorzüge des alten Mühlhauses am Teich. In unseren Augen – und in Richards – hatte dieses aus Granit gebaute, mit Schiefer gedeckte und in einer abgelegenen Eckes des Schulgeländes gelegene alte vernachlässigte Haus plötzlich Schönheit bekommen. Im Handumdrehen wurde es in ein Musikstudio verwandelt, in dem Richard nach Herzenslust üben konnte.

Er übte.

Vier oder mehr Stunden am Tag, vier Jahre lang.

Bald nachdem er von der Schule abgegangen war und weitere Studien an einem Konservatorium beendet hatte, spielte Richard das Erste Horn in einem großen Symphonie-Orchester.

Nach Richard kam Fred, dessen Leidenschaft das Schlagzeug war. Schlagzeug am Vormittag, Schlagzeug am Nachmittag und Schlagzeug in der Nacht. Wir konnten den Lärm nicht aushalten. Deshalb mußten wir schnell handeln. Wir richteten für ihn einen Schlagzeug-Raum im Keller ein und gaben ihm den Schlüssel, so daß er früh, spät und am Wochenende Schlagzeugspielen konnte.

Wir bemerkten, daß der Keller vom Rest des Hauses akustisch nicht ganz isoliert war. Oft war es, als ob man in der Nähe eines Dschungeldorfes lebte, das ständige Dröhnen der Trommeln im Hintergrund.

Nach zwei Jahren, im Alter von 18, verließ er die Schule. Wir liebten ihn, aber viele von uns waren auch erleichtert.

Es ist nicht nur Musik, die die hartnäckige Ausdauer, die wir alle in uns haben, nach außen bringt. Jedes Kind findet schnell ein oder zwei oder mehr Gebiete, die es unablässig verfolgt.

Manchmal ist es noch nicht einmal der Stoff, an dem sie Spaß haben. Jedes Jahr arbeiten sich einige der älteren Schüler, die fest entschlossen sind, aufs College zu gehen, zielstrebig durch die SATs (Scholastic Aptitude Tests), die berüchtigten "Eignungstests", die die Fähigkeit eines Kindes messen, einen SAT-Test zu absolvieren – und auf die sich Colleges im ganzen Land stützen, um ihre schwierigen Zulassungs-Entscheidungen zu treffen. Normalerweise finden die Jugendlichen einen Lehrer, der ihnen an den schwierigen Stellen hilft. Aber die Arbeit vollbringen sie ganz alleine. Sie schleppen dicke Prüfungsbücher von Raum zu Raum und studieren sie ganz genau, Seite für Seite. Dieser Prozeß ist immer sehr intensiv. Selten dauert es mehr als vier oder fünf Monate von Anfang bis Ende, obwohl sich die meisten mit dem Thema vorher nie beschäftigt haben.

Es gibt Schreiber, die sich hinsetzen und jeden Tag stundenlang schreiben. Es gibt Maler, die malen, Töpfer, die töpfern, Köche, die kochen und Athleten, die Sport treiben.

Es gibt Leute mit gewöhnlichen Interessen. Und es gibt welche mit exotischen Interessen.

Luke wollte Leichenbestatter werden – nicht gerade der üblichste Berufswunsch für einen 15jährigen. Aber er hatte seine Gründe. In seiner Vorstellung konnte er klar sehen, wie sich sein Bestattungsunternehmen um die Bedürfnisse der Gesellschaft kümmert, und wie er selbst den trauernden Verwandten Trost spendet.

Luke machte sich mit Begeisterung an sein Studium: Physik, Chemie, Biologie, Zoologie. Mit 16 war er bereit für die eigentliche Arbeit. Wir nahmen ihn hinaus in das wirkliche Leben. Der Chef-Pathologe in einem der regionalen Krankenhäuser empfing den eifrigen, hart arbeitenden Schüler in seinem Labor. Luke lernte jeden Tag mehr Verfahren und meisterte sie, zur Freude seines Chefs. Innerhalb eines Jahres führte er im Krankenhaus unter der Aufsicht seines Mentors unassistierte Autopsien durch. Es war das erste Mal, daß das Krankenhaus so etwas erlaubt hatte.

Innerhalb von fünf Jahren war Luke Leichenbestatter. Jetzt, einige Jahre später, ist sein Bestattungsunternehmen Wirklichkeit geworden.

Und dann gab es da Bob.

Eines Tages kam Bob zu mir und fragte, "Bringst du mir Physik bei?" Für mich gab es keinen Grund, skeptisch zu sein. Bob hatte schon so viele Sachen so gut gemacht, daß wir alle wußten, daß er Dinge bis zum Ende überblicken konnte. Er hatte den Verlag der Schule geleitet. Er hat ein gründlich recherchiertes (und veröffentlichtes) Buch über das Justizsystem der Schule geschrieben. Er hatte unzählige Stunden dem Klavierüben gewidmet.

Also stimmte ich schließlich zu. Unsere Abmachung war einfach. Ich gab ihm ein dickes und schweres College-Lehrbuch über einleitende Physik. Ich hatte oft danach unterrichtet und, als ich Anfänger war, selbst eine frühere Version benutzt. Ich kannte die Fallen. "Gehe das Buch Seite für Seite, Übung für Übung durch", sagte ich Bob, "und komm zu mir, sobald du das kleinste Problem hast. Es ist besser, Probleme frühzeitig mitzubekommen, als sie zu großen Brocken wachsen zu lassen." Ich dachte, daß ich genau wüßte, wo Bob das erste Mal stolpern würde.

Wochen vergingen, Monate.

Bob kam nicht.

Es entsprach nicht seiner Art, etwas aufzugeben, bevor – oder gleich nachdem – er sich eingearbeitet hatte. Ich fragte mich, ob er das Interesse verloren habe. Ich schwieg und wartete.

Fünf Monate nachdem er begonnen hatte, fragte er, ob er mich sprechen könnte. "Ich habe ein Problem auf Seite 252", sagte er. Ich versuchte, nicht überrascht zu gucken. Es dauerte fünf Minuten, um zu klären, was sich als kleines Problem herausstellte.

In Sachen Physik kam Bob nie wieder. Er schaffte das ganze Buch alleine. Und er beschäftigte sich mit Algebra und Differential- und Integralrechnung, ohne daß er auch nur gefragt hätte, ob ich ihm helfen würde. Ich glaube, er wußte, daß ich es tun würde.

1 Amerikanische Schüler schämten sich damals normalerweise, mit jüngeren oder weniger erfolgreichen Schülern zusammenzuarbeiten.

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V. Die Kunst, nichts zu tun

Hanna Greenberg

"Wo arbeitest Du?"

"In der Sudbury Valley School."

"Was tust Du dort?"

"Nichts."

An Sudbury Valley nichts zu tun erfordert eine Menge Energie und Disziplin, und außerdem langjährige Erfahrung. Im Nichtstun werde ich jedes Jahr besser, und es macht mir Spaß zu sehen, wie meine Kollegen und ich uns mit dem inneren Konflikt herumschlagen, der dabei unvermeidlich in jedem von uns erwächst. Der Konflikt besteht zwischen unserer Neigung, für andere da sein zu wollen, unser Wissen teilen zu wollen, hart erworbene Erkenntnisse vermitteln zu wollen, und dem Anspruch, daß die Kinder unter ihrer eigenen Regie und mit ihrer eigenen Geschwindigkeit lernen können müssen. Sie nehmen uns in Anspruch, wenn sie es wollen – nicht, wenn wir es wollen. Wir müssen zur Stelle sein, wenn wir gefragt werden, nicht, wenn wir uns das nur einbilden.

Kindern etwas beizubringen, sie anzuregen, ihnen Ratschläge zu geben, das sind ganz natürliche Aktivitäten, mit denen Erwachsene aus allen Kulturen und Gegenden der Welt beschäftigt zu sein scheinen. Ohne diese Aktivitäten müßte jede Generation alles neu erfinden, vom Rad bis zu den Zehn Geboten, von der Metallbearbeitung bis zur Landwirtschaft. Die Menschen einer Generation geben ihr Wissen zu Hause, im gesellschaftlichen Umfeld, am Arbeitsplatz und angeblich auch in der Schule an die nächste Generation weiter. Leider schaden die Schulen den Kindern dabei um so mehr, je stärker sie bemüht sind, ihren Schülern individuelle Anleitung zu geben. Diese Aussage ist erläuterungsbedürftig, da sie dem zu widersprechen scheint, was ich zuvor gesagt habe, nämlich, daß Erwachsene Kindern ständig dabei helfen zu lernen, wie man sich in der Welt zurechtfindet und einen nützlichen Platz in ihr einnimmt. In einem sehr langsamen und schmerzvollen Prozeß habe ich über mehrere Jahre hinweg gelernt, daß Kinder für ihren Lebensweg wichtige Entscheidungen für sich selbst auf eine Art und Weise treffen, die kein Erwachsener für sie vorausgeplant oder sich vorgestellt haben könnte.

Man bedenke die einfache Tatsache, daß an der SVS viele Schüler entschieden haben, sich an Algebra zu versuchen. Sie müssen ihre Angst, ihr Gefühl von Unzulänglichkeit und ihre mangelnde Disziplin überwinden. Immer wieder erreichen Schüler, die sich dafür entschieden haben, ihr selbstgestecktes Ziel, und machen einen großen Schritt zur Stärkung ihres Selbstbewußtseins, ihres Vertrauens und ihres Charakters. Aber warum geschieht dies nicht in der High School, wo alle Kinder verpflichtet bzw. aufgefordert werden, Algebra zu wählen? Die Antwort ist einfach. Um eine psychische Hürde zu überwinden, muß man bereit sein, eine persönliche Verpflichtung einzugehen. Solch ein geistiger Zustand wird nur durch intensive Betrachtung und Selbstanalyse erreicht und kann weder von anderen verordnet noch für eine Gruppe geschaffen werden. In jedem Fall ist es eine individuelle Auseinandersetzung, und wenn es gelingt, ist es ein individueller Triumph. Lehrer können nur helfen, wenn sie gefragt werden, und ihr Beitrag ist unbedeutend, verglichen mit der Arbeit, die der Schüler leistet.

Das Beispiel mit der Algebra ist leicht zu erfassen, aber es ist nicht so aufschlußreich wie zwei Beispiele, die mir bei der Verteidigung meiner Arbeit auffielen. Da war ein Mädchen, das mir sehr nahe stand und das mich leicht dazu verleitet haben könnte, zu glauben, daß ich sie "gelenkt" hätte. Es überraschte mich sehr, als sie es – entgegen meiner "Gewißheit" – sinnvoller fand, ihre Zeit an der Schule dafür zu verwenden, sich auf Sozialisierung und die Organisation von Tänzen zu konzentrieren, statt ihre Schreibfertigkeiten zu verbessern, die sie für ihre angestrebte Journalisten-Karriere brauchen würde. Keiner der Erwachsenen, die mit der Bildung dieser Schülerin zu tun hatten, wäre auf die Idee gekommen, ihr jene Beschäftigung zu raten oder vorzuschlagen, für die sie selbst sich letztendlich so weise entschied, indem sie sich nur auf ihr inneres Wissen und ihren Instinkt verließ. Sie hatte Probleme, die sie erst erkannte und dann auf kreative, persönliche Weise lösen konnte. Dadurch, daß sie die Menschen nicht aus der Ferne beobachte, sondern direkt mit ihnen zu tun hatte, erfuhr sie mehr über sie und kam folglich zu tieferen Einsichten, die wiederum zu besseren Schreibfähigkeiten führten. Hätten ihr Schreibübungen im Englischunterricht mehr geholfen? Ich bezweifle das.

Oder was ist mit der Schülerin, die anfangs sehr gerne las, ihre Freude am Lesen aber nach einiger Zeit auf der SVS verlor? Lange Zeit hatte sie das Gefühl, daß sie ihren Ehrgeiz, ihren Intellekt und ihre Freude am Lernen verloren hätte. Denn das einzige, was sie tat, war, draußen zu spielen. Nach vielen Jahren wurde ihr klar, daß sie sich in den Büchern vergraben hatte, um vor der Welt draußen zu fliehen. Erst als sie in der Lage war, ihre sozialen Probleme zu bewältigen, und erst nachdem sie gelernt hatte, draußen zu sein und körperliche Aktivitäten zu genießen, kehrte sie zu ihren geliebten Büchern zurück. Jetzt sind sie keine Zuflucht mehr, sondern ein Fenster zu Wissen und neuer Erfahrung. Hätte ich oder irgend ein anderer Lehrer sie so weise leiten können, wie sie selbst sich geleitet hat? Ich glaube, nein.

Als ich das hier schrieb, fiel mir ein anderes Beispiel von vor einigen Jahren ein. Es zeigt, wie die übliche Art von Ermutigung und Befruchtung kontraproduktiv und einengend sein kann. Der betreffende Schüler war offensichtlich intelligent, fleißig und lernbegierig. Tests hätten ergeben, daß er ein deutliches Talent in Mathematik hat. In den zehn Jahren, die er an der SVS verbrachte, beschäftigte er sich aber meist mit Sport und Literatur. Später, als Teenager, spielte er dann klassische Musik auf dem Klavier. Algebra lernte er überwiegend alleine, schien der Mathematik aber nur einen kleinen Teil seiner Zeit gewidmet zu haben. Jetzt, im Alter von 24 Jahren, ist er graduierter Student in abtrakter Mathematik und äußerst erfolgreich an einer der besten Universitäten. Ich schaudere bei dem Gedanken, was aus ihm geworden wäre, wenn wir ihm all die Jahre "geholfen" hätten, mehr Wissen in Mathe anzuhäufen – auf Kosten jener Aktivitäten, die er bevorzugte. Hätte er als kleiner Junge die innere Kraft gehabt, unserem Loben und Schmeicheln zu widerstehen, und bei seinen Büchern, bei Sport und Musik zu bleiben? Oder hätte er sich dafür entschieden, ein "ausgezeichneter Schüler" in Mathe und den Naturwissenschaften zu sein, und wäre er mit einer auf anderen Gebieten unerfüllten Wissenssehnsucht aufgewachsen? Oder hätte er versucht, alle diese Sachen zu tun? Und um welchem Preis?

Als Kontrapunkt zum vorigen Beispiel möchte ich noch einen anderen Fall schildern, der einen weiteren Aspekt unseres Ansatzes veranschaulicht. Vor einigen Jahren sagte mir eine Jugendliche, die seit ihrem fünften Lebensjahr auf der SVS war, ziemlich wütend, daß sie zwei Jahre verschwendet und nichts gelernt habe. Ich teilte ihre Selbsteinschätzung nicht, wollte mich aber auch nicht mit ihr streiten. Also sagte ich einfach: "Wenn Du gelernt hast, wie schlecht es ist, Zeit zu verschwenden, dann hast Du etwas gelernt, das man nicht früh genug lernen kann – eine Lektion, die für den Rest Deines Lebens von Bedeutung sein wird." Diese Antwort beruhigte sie, und ich glaube, der Fall zeigt gut, wie wertvoll es ist, jungen Menschen zu erlauben, Fehler zu machen und daraus zu lernen, statt daß man in der Bemühung, Fehler zu vermeiden, ihr Leben lenkt.

Warum läßt man nicht alle Menschen selbst entscheiden, was sie mit ihrer Zeit anfangen? Dies würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß die aufwachsenden Menschen ihr eigenes, einzigartiges Bedürfnis nach Bildung befriedigen können, ohne von uns Erwachsenen – die niemals genug wissen könnten, um sie auf die richtige Art und Weise anzuleiten – irritiert zu werden.

So lehre ich mich selber das Nichtstun, und je mehr ich dazu fähig bin, um so besser ist meine Arbeit. Zieh daraus aber bitte nicht den Schluß, das Personal wäre überflüssig. Vielleicht sagst du dir, daß die Kinder die Schule praktisch selbst leiten. Warum also soviel Personal, das nur rumsitzt und nichts tut? In Wahrheit brauchen die Schule und die Schüler uns. Wir sind da, um auf die Schule als Institution und auf die Schüler als Individuen aufzupassen und für sie zu sorgen.

Der Prozeß der Selbstbestimmung, seinen eigenen Weg einzuschlagen, tatsächlich sein eigenes Leben zu leben statt nur seine Zeit rumzukriegen – das ist natürlich, jedoch für Kinder, die in unserer Zivilisation aufwachsen, nicht selbstverständlich. Um diesen geistigen Zustand zu erreichen, brauchen sie eine Umgebung, die wie eine Familie – größer jedoch als eine Kleinfamilie – ist, trotzdem aber unterstützend und sicher. Dadurch, daß das Personal aufmerksam und fürsorgend, gleichzeitig aber nicht lenkend oder störend ist, gibt es den Kindern den Mut und die Kraft, auf ihr eigenes Inneres zu hören. Sie wissen, daß wir genauso kompetent sind, sie zu leiten, wie jeder andere Erwachsene; aber unsere Ablehnung, es zu tun, ist ein pädagogisches Werkzeug, das wir aktiv benutzen, um ihnen beizubringen, nur auf sich selbst zu hören, und nicht auf andere, die – bestenfalls – nur die Hälfte der Fakten über sie wissen.

Daß wir den Schülern nicht sagen, was sie tun sollen, wird von ihnen nicht als Mangel oder Leere empfunden. Vielmehr ist es der Impuls für sie, ihren eigenen Weg einzuschlagen – nicht unter unserer Anleitung, sondern unter unserer mitfühlenden und unterstützenden Anteilnahme. Das kann nur in einer lebendigen und komplexen Gemeinschaft gedeihen, nicht im luftleeren Raum; und diese Gemeinschaft muß vom Personal stabilisiert und erhalten werden.

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VI. Welchen Unterschied macht es, ob man auf eine Sudbury School geht?

Auf unserem Informations-Treffen im März stellte ein skeptischer Vater eine sehr direkte Frage. Er erklärte, daß er, nachdem er von den Abgängern der Sudbury Valley School gelesen hat, davon überzeugt ist, daß diese Art von Bildung den Kindern in ihren zukünftigen akademischen Bestrebungen und ihrer Karriere nicht schaden wird. Aber wenn es gar keinen Unterschied macht, ob man den einen oder den anderen Weg nimmt, warum soll man ein Kind dann auf eine Schule des Sudbury-Typs schicken? Diese Frage ging mir einige Tage lang nicht aus dem Kopf. Es war so eine gute Gelegenheit gewesen, zu erklären, warum diese Form von Bildung so wichtig ist, und ich hatte die Gelegenheit einfach nicht genutzt. Ich würde ihm jetzt gerne nochmal antworten, diesmal mit dem Luxus von etwas mehr Voraussicht.

Wenn akademische Fähigkeiten und meßbar "erfolgreiche" Karrieren alles im Leben wären, würde ich mich tatsächlich fragen, ob dieser skeptische Vater in diesem Punkt Recht hatte. Das Leben ist aber erheblich reichhaltiger und komplexer als G.P.A.s und Gehaltsstufen. Tatsächlich sind die wirklich wichtigen Sachen im Leben nicht durch irgend welche "objektiven" Standards meßbar. Logisches Denken und intuitives Verstehen sollen hier als Beispiele ausreichen. Vielleicht können wir für ein zukünftiges Zusammentreffen ein oder zwei Sudbury-Valley-Abgänger überreden, herzukommen und uns als Vorzeigeexemplar oder Fallstudie zu dienen, um das, wofür ich streite, zu unterstützen (oder zu widerlegen).

Kinder, denen tagein, tagaus gesagt wird, was sie tun sollen und wie sie es tun sollen; Kindern, denen selten erlaubt wird, Fehler zu machen; Kinder, die von früh bis spät mit vorbestimmten Aktivitäten beschäftigt werden; Kinder, die auf negative Weise hervorgehoben werden, wenn sie nicht perfekt mit dem Durchschnitt Schritt halten; Kinder, denen beigebracht wird, alles, was sie lernen, prüfen zu lassen und andere entscheiden zu lassen, ob sie es gelernt haben – diese Kinder unterscheiden sich normalerweise von Kindern, denen erlaubt wird, Risiken einzugehen, hin und wieder zu scheitern und es nochmal zu versuchen; von Kindern, die entscheiden dürfen, wofür sie sich interessieren; denen erlaubt wird, herauszufinden, was sie tun müssen, damit es geschieht; von Kindern, denen erlaubt wird, Leute zu finden, mit denen sie das tun wollen; und von Kinder, die für sich selbst entscheiden, wann sie das, was sie wollten, erreicht haben, und die allgemein ihr Leben in einer Gemeinschaft verbringen, in der sie was zu sagen haben. Man kann also mit Sicherheit sagen, daß sich Kinder in einer Sudbury-Modell-Umgebung bestimmte Eigenschaften oder Einstellungen aneignen, besonders, wenn sie dort mehrere Jahre verbringen.

Ich sehe sechs Qualitäten (und viele andere, damit zusammenhängende, die ich wünschte, Platz zu diskutieren zu haben), die von Sudbury-Modell-Schulen wesentlich stärker begünstigt werden als von traditionellen Schulen. Diese zu identifizieren, ist natürlich eine zu starke Vereinfachung eines komplexen Prozesses, also entschuldige mich bitte, daß ich diese Kategorien trotzdem verwende.

Selbstachtung: Zu Selbstachtung gelangen Schüler durch eine Kombination zweier Dinge: Zeit zu haben, sich selbst wirklich kennenzulernen, und dem eigenen Urteil über ihr Leben zu vertrauen. Selbstachtung entsteht auch dadurch, daß ihnen selbst Achtung entgegengebracht wird. Diese Qualität hilft, ihr Leben zu bereichern, indem sie ihnen z.B. erlaubt, ofensiv auf den Zulassungsmenschen am College zuzugehen oder energisch in einer öffentlichen Anhörung aufzutreten, und auch den Vorrat an Selbstliebe zu stärken, der nötig ist, um sorgend und respektvoll mit anderen umzugehen.

Eigenmotivation: Wenn Kinder, das tun, wofür sie sich interessieren, dann interessieren sie sich wirklich für das, was sie tun. Kleine Kinder müssen diese Fähigkeit nicht "lernen". Sie ist so natürlich wie Atmen. Aber ältere Schüler brauchen Zeit, um ihre innere Motivation wiederzuentdecken. Schüler, die in traditionellen Schulen "erfolglos" waren, sind ausgebrannt. Schüler, die "erfolgreich" waren, sind von den Belohnungen abhängig geworden, die sie dafür erhielten, ein "guter Schüler" zu sein. Wenn Menschen eine eigene Motivation haben, dann können sie die Risiken eingehen, die das Leben lebenswert machen – seine eigenen Sachen machen, Ziele verfolgen, die Herz und Verstand erweitern. Diese Leute ziehen die Aktivität der Passivität vor. Sie interessieren sich dafür, herauszufinden, warum andere Menschen gerade so und nicht anders handeln.

Ausdauer: Wenn du Ausdauer sehen willst, dann sieh dir an, wie ein Kind laufen lernt: Zwei Schritte, Hinfallen, wieder Aufstehen, noch drei Schritte, Hinfallen, Aufstehen ... Um ein Ziel unablässig zu verfolgen, braucht man ununterbrochene Zeit und Konzentration. An Sudbury Schools können die Schüler Wochen oder Monate damit verbringen, sich auf ein Thema zu konzentrieren. Musiker improvisieren stundenlang. Ein paar Jugendliche bauen tagelang an ein und der selben Baustein-Stadt. Kein Klingelzeichen, das einen zum Aufräumen veranlaßt; keine Mittagspause, die einen unterbricht. Niemand hat das Recht, die Aktivität eines anderen zu stören. Alle 40 Minuten das Thema oder Fach zu wechseln, wie es in traditionellen Schulen geschieht, wirkt sich verheerend auf die Fähigkeit zur Ausdauer aus. Aufgaben, erledigen zu müssen, für die man sich nicht interessiert, heißt Energie-Sparen zu üben – tu nicht mehr, als du tun mußt, um durchzukommen. Jeder weiß, was Ausdauer am Arbeitsplatz bedeutet. Man könnte auch den Unterschied nehmen zwischen der Aufforderung, sich eine Reihe 30minütiger TV-Shows anzugucken (worum auch immer es dabei geht) und der Anziehungskraft, die davon ausgeht, sich in ein Buch zu vertiefen, in dem es um eine Sache geht, die einen interessiert.

Persönliche Verantwortung: Verantwortung und Freiheit sind zwei Seiten einer Medaille. Wenn Kindern nicht erlaubt wird, echte Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen, können sie keine persönliche Verantwortung lernen. Wenn Johnnys Fisch stirbt, weil er vergißt, ihn zu füttern, oder Susi gefeuert wird, weil sie ständig zu spät kommt, ist dies eine unschätzbare Lektion in Sachen Verantwortung. Unsere Gesellschaft neigt dazu, Kinder vor den Gefahren zu schützen, denen sie ausgesetzt sind, wenn sie hoch klettern, vor dem kalten Wetter, dem sie ausgesetzt sind, wenn sie ihre Jacke vergessen, vor den Fehlern, die sie bei der Vorbereitung aufs College machen können. Unser Beschützertum verdeutlicht ihnen immer wieder, daß sie nicht für sich selbst verantwortlich sind, daß sie es nicht sein müssen, weil jemand anders es ist. Wenn verantwortungsbewußte Schüler aufwachsen, erfinden sie keine Ausreden für ihr Verhalten. Sie wissen, daß sie für ihr eigenes Leben geradestehen müssen. Sie sind keine Opfer oder unfreiwilligen Teilnehmer. Sie wählen ihren Weg und sind darauf vorbereitet, ihn zu Ende zu verfolgen und die Verantwortung zu übernehmen, wenn sie scheitern.

Kreativität: Kreativität findet an Sudbury-Modell-Schulen in allen Bereichen des Schullebens statt. Schüler der Fairhaven School werden sich bei allem notwendigerweise auf ihre eigene Kreativität verlassen, angefangen beim Bauen einer Brücke über den Fluß, über das Beschaffen von Geld für einen Camcorder, bishin zu einem geeigneten Vorschlag im Justizkomitee als Konsequenz für Spitball Warfare2. In diesen Tagen werden eine Menge Lippenbekenntnise zur Bedeutung von Kreativität abgegeben. Und sie haben ja auch Recht. Das 21. Jahrhundert wird voll von Herausforderungen sein, auf welche die alten Lösungen keine befriedigende Antwort sein werden. Die Fähigkeiten, die von einem Arbeiter im 21. Jahrhundert verlangt werden, unterscheiden sich deutlich von denen unserer Generation. Die menschliche Kreativität und Flexibilität werden Grunderfordernisse des Überlebens sein.

Kompetenz: Diese Charakterisierung von Leuten von Sudbury-Modell-Schulen ist vielleicht nicht ganz richtig so. Eigentlich ist es eine Mischung aus Selbstvertrauen, Kreativität und Ausdauer. Aber mit der Zeit werden Leute, die ständig Herz, Hand und Verstand benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, ziemlich gut darin. Sich etwas selbst beibringen zu können, ist eine Fertigkeit – und mit Praxis wird sie besser. Wenn Sudbury-Schüler einem konkreten Stück Wissen nachgehen, dann fragen sie jeden, von dem sie glauben, er könnte ihnen helfen, suchen im Internet, lesen, spielen nervös mit irgendwelchen Kleinteilen herum und kritzeln bedeutungslose Sachen und denken nach; sie versuchen es und scheitern und versuchen es noch einmal ... Sie finden den für sie besten Weg heraus, Informationen zu erfassen und Fähigkeiten zu erwerben. Sie wissen, in welchem Tempo sie am besten vorankommen und sie wissen auch, wann sie genug gelernt haben.

Wenn wir all diese Qualitäten und Eigenschaften vereinen, können wir uns z.B. einen sudbury-gebildeten Automechaniker vorstellen. Er hat die Selbstachtung, daß er weiß, daß er eine schwierige Aufgabe anpacken kann, und daß er seine Kunden mit Würde behandelt; er hat die Verantwortung, daß er seinen Job richtig macht, die Motivation, in dem Bereich weiter zu arbeiten, die Kreativität, ein kompliziertes Maschinen-Problem zu durchdenken und neue Sichtweise auszuprobieren, die Ausdauer, daran weiterzuarbeiten, bis er es hingekriegt hat und die Kompetenz zu wissen, wie er Hilfe bekommt, wenn er sie braucht, und auch die Kompetenz, die richtigen Fragen zu stellen und mit den Antworten etwas anfangen zu können. Und auch zuhause führt er ein Leben, in dem er sich für seine Umgebung interessiert, sorgend und achtend in seinen Beziehungen mit Familie und Freunden ist, und in dem er zuhause und in der Gesellschaft Verantwortung für seine Handlungen übernimmt ... Gehe ich hier zu weit? Vielleicht. Aber Fairhaven School kriegt es besser als jede traditionelle Schule hin, diese Qualitäten der Schüler aufrecht zu erhalten und zu stärken. Und die Erfahrung, in einer Gemeinschaft zu sein, in der diese Qualitäten wirklich etwas wert sind, bereichert das Leben von Fairhaven Schülern noch lange nachdem sie die Schule verlassen haben.

2 Spitball Warfare ist eine vielen wohlbekannte Sache, die sich aber leider nicht auf Deutsch übersetzen läßt: gut durchgekautes Papier zu einer kleinen Kugel rollen und sie auf andere Leute schnipsen bzw. durch einen Strohhalm pusten.

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