Danke, wir denken selbst!
- das Recht auf Bildung
Eine Krankheit hat Berlins Schulen befallen: K.R.Ä.T.Z.Ä. Unangenehm und provozierend kratzt sie an alten Vorstellungen und knabbert am ganzen Bildungssystem bis in die Wurzeln.
von Sabine Steldinger
Das bestehende Bildungssystem hat seine Existenzberechtigung schon längst verloren. Es wurde in einer völlig anderen Gesellschaft im 19. Jh. geschaffen, in der Anpassung und Untertanengeist gefragt waren und in der ein Mensch sein Leben lang in einem gesicherten Beruf verblieb.
Die Gesellschaft hat sich grundlegend geändert, nur das Bildungssystem hat sich als äußerst resistent gegenüber Veränderungen erwiesen. Die moderne Staatschule und ihre Zwangsverordnung entstanden zum Schutz und Erhalt des industriellen Nationalstaates im 19. Jh. Im gesellschaftlichen Wandel zu einer Weltgesellschaft verliert der Nationalstaat an Bedeutung. Die traditionelle Schule ist überfordert und nicht reformierbar. Es wurde in den letzten Jahrzehnten ein Mythos von Schule geschaffen, der der Wirklichkeit und auch lernpsychologischen Erkenntnissen in keiner Weise gerecht wird (z.B. daß Schule die Institution sei, die Kinder tolerant, kulturell interessiert und zukunftsfähig mache _ wenn Kinder das werden, dann nicht wegen, sondern trotz der Schule).
Ein zukunftsfähiges, der demokratischen Gesellschaft angepaßtes Bildungssystem muß auch deren Merkmale haben: Freiheit, demokratische Gewaltenteilung, Pluralismus. In der Demokratie hängt Freiheit eng mit Verantwortung für sich und andere zusammen. Aber wie sollen junge Menschen Verantwortungsbewußtsein lernen, wenn die Übernahmen von Verantwortung ihnen vorenthalten wird? Wie sollen junge Menschen Toleranz lernen, wenn sie selber intolerant, als Objekte, denen man Wissen wie einem Computer eintrichtert, behandelt werden?
Zwei Modelle
Konkret stellen wir uns zwei Modelle vor. Das innovativste ist das Modell der Sudbury Valley School. Sie bietet ein breites Angebot an Freizeitmöglichkeiten, eine Bibliothek, Labore und natürlich Computertechnik an. Lernen findet in allen Bereichen des gemeinsamen Lebens statt.
Ein anderes Modell ist das kursorientierte Modell, das im engen Austausch zu Sudbury-Schulen stehen kann. Hier bietet die einzelne Schule ein Spektrum an Kursen, in welche die jungen Leute sich einschreiben können und ihren individuellen Lehrplan selbständig zusammenstellen.
Kein Monopol
Doch wie geht`s weiter nach der Schule? Auch Schüler dieser freien Schulen können sich freiwilligen Bewertungen und Abschlüssen unterziehen oder sich einfach mit ihrem Fachwissen bewerben. Vorraussetzung dafür ist, daß z.B. Universitäten Bewerbungsgespräche, Eingangs- oder Aufnahmetests zulassen, wie z.B. in der USA üblich.
Wichtig ist auch, daß allein der Staat das Angebot an unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten finanziert, damit die Chancengleichheit zwischen ärmeren und reicheren Familien gewahrt werden kann und keine Beeinflussung von Sponsoren vorkommt.
Das Staatschulmonopol muß gebrochen werden. Die Schulpflicht muß durch ein Recht auf Bildung ersetzt werden.
Lernen in Freiheit
Zwang ist zwecklos
von Sabine Steldinger
Lernen ist eigentlich immer ein natürlicher und selbstbestimmter Prozeß (was die heutige Schule jedoch mißachtet), und es ist ineffektiv und wirkt eher zerstörerisch, wenn man ihn institutionalisiert und von oben herab bis ins kleinste Detail plant. In einer globalen Gesellschaft, die sich rasant weiterentwickelt, mit einem Weltwissen, das sich alle paar Jahre verdoppelt, ist es die einzige Chance, Kinder selbst das Wissen der Welt entdecken zu lassen und das Schulsystem vollkommen neu zu konzipieren. Denn mit Zwang klappt auch nix. Der Stoff wird stur auswendig gelernt und nach der Klausur zum großen Teil wieder vergessen. Man hat den Kopf voll mit Zeug, das man eventuell nie wieder gebrauchen wird und das einen auch nicht im Geringsten interessiert. Der Schüler lernt so weder vernetztes Denken noch Selbständigkeit oder eigenverantwortliches Lernen.
Doch die Motivation, wirklich etwas zu lernen, kann nur von innen kommen. Und wenn einem vom Beginn seines Bildungsweges diese innere Motivation erhalten bleibt, so ist es auch im späteren Leben ein leichtes Ding, selbstständig zu bestimmen, wie, wann, wo man lernt und Probleme löst. Man lernt schließlich ein Leben lang und muß flexibel sein.
Der Gedanke, daß Kinder in einem bestimmten Alter etwas bestimmtes können müssen, sonst seien sie unnormal" oder nicht lernfähig", ist zwar weit verbreitet. Doch weil irgendwann auch das letzte Kind ganz von allein mitbekommt, daß die anderen viel besser informiert sind, wenn sie lesen können, lernt es früher oder später lesen, als Grundlage für spannende Entdeckungsreisen durch das Wissen der Welt. Ein Gedanke, daß Kinder unterschiedlich schnell Sprechen lernen, hat sich inzwischen durchgesetzt. Warum hält man es nicht genauso mit dem Lesen lernen?
Junge Menschen, die in Freiheit aufwachsen und lernen, wollen im Leben zurecht kommen. Deshalb lernen sie nicht nur für sie interessante Dinge, sondern lassen sich auch auf unangenehme Dinge ein, wenn diese ihnen helfen, andere Dinge zu erreichen, z.B. im Berufsleben.
Durch selbstbestimmtes Lernen sind sich junge Menschen viel früher darüber im Klaren, was sie im Leben wollen. Sie überlegen sich, wo ihre Interessen, Stärken und Schwächen sind und setzen sich Ziele. Sie stehen nicht wie viele Jugendliche nach dem Staatsschulabschluß vor völliger Dunkelheit und Orientierungslosigkeit.
Konsequent frei und demokratisch
Das Modell der Sudbury Valley School
von Martin Wilke
In der vor über 30 Jahren in Framingham (Massachusetts, USA) gegründeten Sudbury Valley School gelten die Grundprinzipien einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft, Selbstbestimmung und Mitbestimmung, auch für Kinder und Jugendliche. Freiheit und Demokratie, Verantwortung, Respekt und Vertrauen stehen im Mittelpunkt dieser ungewöhnlichen Schule.
Kein Lehrplan
Jeder der 220 Schüler im Alter von 4 bis etwa 19 Jahren entscheidet selbst, womit er seine Zeit verbringt. Niemand wird zum Lernen gezwungen oder gedrängt. Lernen wird nicht künstlich inszeniert, sondern findet als natürlicher Prozess mitten im Leben statt, in einer Umgebung die eher einem großen Einfamilienhaus statt einem Verwaltungsgebäude entspricht. Es gibt keinen Lehrplan und keine unangeforderte Bewertung. Die Kinder sind neugierig und wollen im Leben zurechtkommen. Sie lernen, indem sie Dinge ausprobieren, anderen zusehen, etwas mit ihnen zusammen machen, sich mit ihnen über alles mögliche unterhalten, spielen, lesen, sich etwas erklären lassen, einfach aktiv am Leben teilnehmen. Es gibt keine Klassenstufen und keine Trennung nach dem Alter. Die Schüler müssen ihre Aktivitäten nicht im 45-Minuten-Takt wechseln, sondern haben Zeit, konzentriert ihren Interessen nachzugehen, und lernen so, nicht locker zu lassen, bis sie ihr selbstgestecktes Ziel erreicht haben. Kurse finden nur statt, wenn Schüler dies ausdrücklich verlangen.
Ein Mensch _ eine Stimme
Alle Entscheidungen, die die Schulgemeinschaft betreffen, werden in der wöchentlichen Schulversammlung, in der jeder Mitarbeiter und jeder Schüler eine Stimme hat, durch Mehrheitsentscheidung getroffen. Schüler und Mitarbeiter der Schule sind völlig gleichberechtigt. Beschwerden über die Verletzung der gemeinsam festgelegten Regeln werden von einem demokratisch legitimierten Justizkomitee auf rechtsstaatliche Weise verhandelt. Schüler und Lehrer werden dabei gleichermaßen zur Verantwortung gezogen.
Es funktioniert
Anders als in traditionellen Schulen gibt es an Sudbury Valley niemanden, der nicht früher oder später Lesen, Schreiben und Rechnen lernt. Sobald ein Schüler sich entschlossen hat, etwas zu lernen, lernt er es in einem Bruchteil der sonst üblichen Zeit. Sudbury-Valley-Abgänger haben gelernt, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und sich den Herausforderungen einer sich immer schneller verändernden Welt zu stellen. Ein Großteil der Schüler, die zuvor traditionelle Schulen besuchten, galt auf diesen als Problemschüler. An Sudbury Valley haben sie die Freude am Lernen wiedergewonnen und sind zufriedene und erfolgreiche Erwachsene geworden.
85% der ehemaligen Sudbury-Schüler haben später studiert oder andere Einrichtungen höherer Bildung besucht. Fast alle arbeiten im Beruf ihrer Wahl. Mittlerweile gibt es weltweit etwa 20 Sudbury-Schulen.
Gemeinschaftliches Lernen an der Sudbury Valley School