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Lore Maria Peschel-Gutzeit zum Wahlrecht für Kinder

Ein Zitat aus: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 43/97

Ehemalige Berliner Senatorin für Justiz

Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit

Unvollständige Legitimation der Staatsgewalt oder: Geht alle Staatsgewalt nur vom volljährigen Volk aus?

I. Wer legitimiert die Staatsgewalt? Knapp 16 Millionen minderjährige Bürgerinnen und Bürger unseres Staates (Stand: 31. 12. 1995) sind nach Art. 38 II GG von der Teilnahme an den Wahlen und damit von der Mitwirkung an der Legitimation der Staatsgewalt ausgeschlossen. Tatsächlich legitimieren also nur etwa 80% der Bevölkerung die Staatsgewalt - und zwar auch mit Wirkung für die nichtbeteiligten rund 20%.

Minderjährige sind eigenständige Rechtspersonen. Sie sind auch Inhaber von Grundrechten. In vielfältiger Weise nehmen sie am gesellschaftlichen, finanziellen und politischen Leben teil - sei es unmittelbar, sei es vertreten durch die Eltern. Ihre Beteiligung ist dabei nicht auf die Inanspruchnahme bestimmter Rechte beschränkt. Schon frühzeitig werden sie auch in die Pflichten eines Staatsbürgers eingebunden: So beginnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit z. B. vor dem Eintritt der Volljährigkeit. In einer Hinsicht sind sie freilich gänzlich ausgeschlossen: An der Konstitution der Staatsgewalt wirken sie nicht mit, sie haben - obwohl unbezweifelbar Mitglied unseres Staatsvolkes - nicht teil an der Volkssouveränität nach Art. 20 II GG, von ihnen scheint keine Staatsgewalt auszugehen. Art. 38 II Halbs. 1 GG bestimmt nämlich, daß die Wahlberechtigung erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahrs erreicht wird.

II. Gibt es bessere Wege? Die Forderung, bei der Legitimation der Staatsgewalt auch die Stimmen der Minderjährigen zu berücksichtigen, wird seit langem erho ben, mit unterschiedlicher Begründung und differenzierten Zielen. Die einen fordern ein selbst auszuübendes Wahlrecht ab 14 oder 16 Jahren - einige sogar ab der Geburt (dagegen zuletzt Roellecke, NJW 1996, 2773). Andere fordern ein sogenanntes Familienwahlrecht, also die Erhöhung der originären Stimme der Eltern. Die dritte Forderung zielt darauf ab, jedem Deutschen von Geburt an das Wahlrecht zu gewähren und dessen Ausübung für die Zeit der Minderjährigkeit des Kindes auf die Eltern zu übertragen (gegen diese Forderungen v. Münch, NJW 1995, 3165). Um die dritte Forderung geht es in den nachstehenden Überlegungen. Um keinen Irrtum zu erzeugen-. Wer dies will, muß selbstverständlich eine Änderung des Art. 38 II Halbs. 1 GG anstreben. Inwiefern eine solche Änderung im Hinblick auf Art. 79 III GG (Demokratieprinzip) Bedenken unterläge, wird ebensowenig begründet wie der angeblich "eindeutige Angriff auf unsere Verfassung" (Wassermann, Magazin "Focus" v. 17. 2. 1997, S. 64). Der Ausschluß eines Fünftels der deutschen Gesamtbevölkerung von der Wahl durch die bisherige Verfassungsbestimmung ist von zu großem Gewicht, als daß es nicht lohnte, die Berechtigung dieses Ausschlusses kritisch zu überprüfen:

III. Warum haben Minderjährige kein Wahlrecht? Zur Rechtfertigung der geltenden grundgesetzlichen Regelung wird im wesentlichen ins Feld geführt, eine Ausübung des Wahlrechts durch einen (gesetzlichen) Stellvertreter verstoße gegen den Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl, da der Stellvertreter (Elternteil) anstelle des Wahlberechtigten (Minderjährigen) auch die inhaltliche Wahlentscheidung treffe (so z. B. v. Münch, NJW 1995, 3165). Und die Höchstpersönlichkeit der Wahl sei notwendig, um Manipulationen - bis hin zum Stirnmenkauf - zu verhindern.

Es trifft zu, daß derjenige, der seine Stimme durch einen Vertreter abgeben läßt, damit nicht höchstpersönlich wählt. Zu fragen ist aber, ob die Höchstpersönlichkeit der Wahl eine verfassungsrechtliche Bedingung ist. Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl ergibt sich nicht aus dem Grundgesetz: Er leitet sich allenfalls mittelbar aus dem Erfordernis der geheimen Wahl ab. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Bei der Briefwahl und der Stimmenabgabe mit Hilfe einer Vertrauensperson. Hier wird die Höchstpersönlichkeit durchbrochen oder bleibt doch ungarantiert, ohne daß dies für verfassungsrechtlich unzulässig oder auch nur bedenklich gehalten wird: Denn, so wird argumentiert, dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl werde so jedenfalls entsprochen. Ihm werde in höherem Maße Rechnung getragen, als wenn Abwesende von der Wahl ausgeschlossen würden. Eine Gefährdung der Grundsätze der unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl (Art. 38 I GG) sei damit nicht verbunden (BVerfGE 21, 200 [204] = NJW 1967, 924). Diese Abwägung macht deutlich, daß die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 GG sowohl untereinander als auch mit den übrigen Vorschriften des Grundgesetzes als gleichwertig angesehen werden und in einer derart engen Verbindung stehen, daß sie nicht isoliert gelten, sondern miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Zwar besteht bei der Briefwahl, anders als bei der Stellvertretung durch die Eltern, grundsätzlich die Möglichkeit, daß die Unterstützung einer Hilfsperson auf "technische" Hilfeleistung beschränkt bleibt. Aber die Abwägung zwischen dem Grundsatz derHöchstpersönlichkeit und dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ist sowohl für den Fall der Briefwahl als auch für den Fall der stellvertretenden Wahlrechtsausübung in gleicher Weise vorzunehmen. Warum diese Abwägung, soweit das Wahlrecht der Minderjährigen betroffen ist, zuungunsten des Minderjährigen ausfällt, wird - soweit ersichtlich - dogmatisch nicht begründet. Das BVerfG hat entschieden, eine Begrenzung der Allgemeinheit der Wahl sei verfassungsrechtlich nur zulässig, sofern ein zwingender Grund bestehe (BVerfGE 28, 220 [225] = NJW 1970,1309 L). Daß und warum Minderjährigkeit einen Ausschluß vom Wahlrecht rechtfertigt, wird vom BVerfG nicht begründet, wenn es allein konstatiert, das sei "von jeher aus zwingenden Gründen" (BVerfGE 36, 139 [141] = NJW 1974, 31 1) gegeben. Und in der Literatur findet sich nur der Hinweis, die Bestimmung des Wahlalters sei eine verfassungskräftige Einschränkung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl. Sie sei traditionell erhärtet und gewohnheitsrechtlich anerkannt. Für eine Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes in der Frage des Wahlalters sei daneben kein Raum. Gründe aber werden nicht genannt. Zwar sollen, wie ausgeführt, durch die Höchstpersönlichkeit Manipulationen jedweder Art verhindert werden. Aber die Stimmenabgabe in gesetzlicher Stellvertretung durch die Eltern ist per definitionem eine treuhänderische und schließt damit ungetreue Stellvertretung ebenso aus wie die elterliche Stellvertretung im übrigen.

IV. Was zeigt die Geschichte? Im Laufe der Rechtsgeschichte haben sich die verschiedenen Systeme und die von ihnen gewährten Wahlberechtigungen immer wieder verändert. So durften einst nur Personen von Stand, dann auch selbständige Bürger, später jeder volljährige Mann, also auch die Farbigen in den USA, und schließlich sogar die Frauen wählen. In Deutschland wurde das Wahlalter von 25 Jahren (in derZeit vor 1918) auf 18 Jahre (im Jahre 1970) - und jüngst für die Kommunalwahl in Niedersachsen sogar auf 16 Jahre - herabgesetzt. Alle diese Änderungen waren übrigens stets als abwegig betrachtet worden, bevor sie, zum großen Teil erst nach langwierigen Verhandlungen über Jahre hinweg, durchgesetzt werden konnten. Auch heute, 1997, scheint es nicht anders zu sein: Etwas, das es noch nie gegeben hat, ist zunächst einmal utopisch, abwegig und höchst suspekt.

V.Gibt es eine angemessene Lösung? Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hatte in einem Gutachten vom 26. 8. 1993 immerhin für das hier unterstützte "Stellvertretermodell" einen Weg gesehen. Der Konflikt -mit dem Grundsatz der Höchstpersönlichkeit sei möglicherweise unter Heranziehung der Grundsätze von Art. 6 Il GG und §§ 1626 ff. BGB im Wege einer Ausnahme zu lösen. Dies ist nach der hier vertretenen Ansicht der Weg, über den der Verfassungsgesetzgeber gehen sollte: Die Rechtsstellung Minderjähriger bringt es mit sich, daß sie in nahezu jeder Hinsicht - auch und gerade bei höchstpersönlichen Angelegenheiten - von ihren Eltern vertreten werden. Der Stimmabgabe bei einer politischen Wahl liegt eine Entscheidung zugrunde, die unmittelbare Konsequenzen für den einzelnen Wähler nicht hat. Die Auswirkungen für jeden und damit auch für den minderjährigen Wähler sind weit weniger entscheidend als manche Verfügung, die die Eltern etwa in finanzieller Hinsicht mit Wirkung für ihre Kinder treffen. Zudem wären Eltern auch hier nach ihrer verfassungsrechtlichen Treuhänderstellung stets verpflichtet, ihre Wahl am Wohl des Kindes auszurichten. Und im übrigen hätten sie die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis ihres Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln bei Abgabe der Stimme des Kindes in Stellvertretung stets zu berücksichtigen. Sie hätten, wenn und soweit die Entwicklung des Kindes dies zuläßt, die Frage der politischen Entscheidung mit dem Kinde zu besprechen und Einvernehmen mit ihm anzustreben, § 1626 11 BGB. Auch der oft gehörte Einwand, wer denn die Entscheidung treffen solle, wenn z. B. Vater CDU, Mutter SPD wähle, ist unbegründet. Das Gesetz trifft in § 1628 BGB eine Konfliktregelung, die auch hier einschlägig wäre: Das Gericht übertrüge bei unlösbarem Konflikt einem von beiden Elternteilen die Gesamtentscheidung. Die Schwierigkeit, die kindeswohlgerechteste Entscheidung bei der Wahl zwischen politischen Parteien herauszufinden, ist unverkennbar, aber nicht unlösbar, zumal das richterliche Einigungsgespräch nach § 1628 11 BGB auch hier die entscheidende Bedeutung haben dürfte. Aber auch andere Lösungen sind denkbar: Hattenhauer (JZ 1996, 9 [16]) hat hierzu den Vorschlag unterbreitet, jedem Elternteil pro Kind nur eine halbe Stimme einzuräumen. Dabei folgt das Recht der Stellvertretung auch bei der Stimmabgabe dem Sorgerecht. Hat also nur ein Elternteil das elterliche Sorgerecht, so steht ihm auch die ganze Stimme zu. Der Einwand schließlich, hinsichtlich der Ausübung des Wahlrechts durch die Eltern könne das Wächteramt des Staates unterlaufen werden, geht ebenfalls fehl. Worin könnte bei Wahlausübung durch die Eltern die unmittelbare Gefährdung des Kindes liegen? Selbst wenn nicht nur Aspekte, die für Kinder und ihr Umfeld wichtig sind, bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte politische Partei eine Rolle spielen, so schadet das doch nicht unmittelbar, und mittelbare Auswirkungen elterlichen Handelns unterliegen nicht der Überwachung durch die staatliche Gemeinschaft.

Vl. Was würde sich gesellschaftlich und politisch ändern? Könnte sich eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag dazu entschließen, Art. 38 II Halbs. 1 GG entsprechend den vorherigen Ausführungen zu ändern, so wäre ein großer Schritt in Richtung Familien- und Kindergerechtigkeit unserer Gesellschaft getan:

Die Bestimmung in Art. 20 II GG, wonach alle Staatsgewalt vom VoIke, d. h. dem ganzen, ausgeht, würde erstmals vollständig umgesetzt. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahlen, der zugleich Ausdruck der Gleichheit aus Art. 3 GG ist, würde erheblich gestärkt, denn 20 Millionen Minderjährige würden ihre Stimme durch einen Stellvertreter abgeben können. Die Bedeutung des Staatsziels aus Art. 20 a GG, wonach der Staat in der Verantwortung für die künftigen Generationen steht, würde erheblich aufgewertet werden, wenn die Interessen der nachwachsenden Generationen schon jetzt ihrer Zahl entsprechend Niederschlag in dem Wahlverhalten finden könnten. Würden die Minderjährigen - über ihre Eltern - eine Stimme haben, so wäre allein ihre Gruppe, also ohne die betroffenen Eltern, schon größer als die der Senioren. Eine solche Änderung im Wahlrecht würde endlich die soziale Symmetrie, die verloren gegangen ist, wieder herstellen oder doch verbessern.

Andere Schwerpunkte könnten in der Politik gesetzt werden, weil Familien mit minderjährigen Kindern auf dem Markt der knappen öffentlichen Ressourcen mit anderen starken "Interessengruppen" endlich konkurrieren könnten Schließt man aber Minderjährige weiterhin von der Teilnahme an Wahlen aus, so bleibt es bei der bekannten "Schieflage" zu Lasten der Familien mit Kindern, die einschlägige Interessenverbände und die Kirchen seit Jahren beklagen.

Familien, die sich der Kindererziehung in unserer Gesellschaft widmen, werden - gerade in finanzieller Hinsicht - benachteiligt. So setzte die rentenversicherungsrechtliche Anerkennung von Erziehungszeiten erstmals 1986 mit Anerkennung eines Jahres pro Kind ein. Es dauerte noch bis 1992, um eine Anerkennung von drei Jahren zu erreichen. Diese Fristen werden der Realität nicht gerecht. Auch steuerrechtlich sind die finanziellen Belastungen, die ein Kind für eine Familie bedeutet, bis heute nicht in angemessener Weise anerkannt. 1993 wurde für 10 Millionen Senioren das dreifache Sozialbudget, nämlich 450 Millionen DM, aufgewendet, als für 12,5 Millionen Minderjährige und ihre Familien, die insgesamt nur mit 150 Millionen DM unterstützt worden sind. Die Renten wurden maßvoll erhöht, die Erhöhung des Kindergeldes wurde verschoben. Statistische Erhebungen belegen, daß die Arbeits- und Wohnsituation ebenso wie die finanzielle Ausstattung der Erwachsenen ohne Kinder deutlich besser ist als die von Eltern minderjähriger Kinder. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Trotzdem beruht die Tektonik des sogenannten Generationenvertrags auf der Erwartung, junge Paare werden sich dennoch für Kinder entscheiden. Die Geburtenentwicklung der vergangenen Jahre zeigt, daß diese Rechnung immer weniger aufgehen kann.

Wenn die Situation von Familien mit Kindern, die sich als einzige der Sicherung der Zukunft unserer Gesellschaft widmen, nachhaltig verbessert werden soll, muß sie in ihrer Gesamtheit das ihr zustehende politische Gewicht erhalten. Das geschieht am ehesten und am sichersten durch die Gewährung des Wahlrechts für alle Bürgerinnen und Bürger von der Geburt an.


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