Antrag beim Verwaltungsgericht
Rechtsanwalt und Notar Jens A. Brückner Moselstraße 3 12159 Berlin Verwaltungsgericht Berlin 3. Kammer Kirchstraße 7 10557 Berlin Datum: 25.11.1996 Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkungdes Schülers Benjamin Kiesewetter, gesetzlich vertreten durch Frau Dagmar Kiesewetter, Langenscheidtstr. 12, 10827 Berlin, Antragsteller, g e g e n Land Berlin, vertreten durch das Landesschulamt, Storkower Str. 133, 10407 Berlin, Antragsgegnerin wegen Schulausschluß. Namens und in Vollmacht des Antragstellers wird beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Umschulung in eine andere Schule mit demselben Bildungsziel wiederherzustellen, hilfsweise, die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller weiterhin in der 11. Klasse der Robert- Blum- Oberschule zu beschulen. Der Antragsteller besuchte im Schuljahr 1995/96 die 10. Klasse der Robert-Blum-Oberschule (Gymnasium) im Bezirk Schöneberg von Berlin. Mit Schreiben vom 28. Februar 1996 teilte der Antragsteller dem Schulleiter der Schule mit, daß er beschlossen habe, im laufenden Schuljahr den Chemieunterricht nicht mehr zu besuchen. Diese Haltung werde von seiner Mutter geteilt. Zugleich beantragte er, zukünftig im Fach Chemie nicht mehr benotet zu werden. Zur Glaubhaftmachung: Schreiben vom 28. Februar 1996 Dem Antrag wurde eine ausführliche Begründung beigelegt, in welcher im einzelnen dargelegt wurde, daß der Antragsteller die Lehrinhalte des Chemieunterrichtes für überflüssig hält. Darüber hinaus wurde dargelegt, daß der Chemieunterricht seine Zeit und Kräfte verschwendet. Die Unterrichts- und Lernbedingungen seien gesundheitsgefährdend und schadeten der Entwicklung. Erkenntnisse aus Lernbiologie und Psychologie zeigten, welche Schäden unfreiwilliges Lernen anrichten könne. Schließlich bezog er sich zur weiteren Begründung auf juristische und menschenrechtliche Ausführungen des Kinderrechtlers John Holt über das "Recht, sein Lernen selbst zu bestimmen". Zur Glaubhaftmachung: Begründung des Befreiungsantrages Mit Schreiben vom 4. März 1996 an die Mutter des Antragsteller teilte der Schulleiter der Robert-Blum-Oberschule mit, daß eine Befreiung vom Chemieunterricht nicht möglich sei. Aus Paragraph 12 des Schulgesetzes und Paragraph 28 des Schulverfassungsgesetzes ergebe sich die Verpflichtung, am verbindlichen Veranstaltungen der Schule regelmäßig teilzunehmen. Eine "Unterrichtsverweigerung" gelte als unentschuldigtes Fehlen. Zur Glaubhaftmachung: Bescheid vom 4. März 1996 Hiergegen legte der Antragsteller mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14. Juni 1996 Widerspruch ein und beantragte, In Abänderung des angefochtenen Bescheides den Kläger vom Chemieunterricht zu befreien. Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch zurück. Hiergegen ist beim Verwaltungsgericht Klage erhoben, welche zum Aktenzeichen VG 3 A 1720/96 geführt wird. Zur Glaubhaftmachung: Heranziehung der Verwaltungsstreitakte Kiesewetter ./. Land Berlin VG 3 A 1720/96 Unter Bezugnahme auf den Widerspruch vom 14. Juni 1996 hinsichtlich des Antrags auf Befreiung vom Chemieunterricht beantragte der Antragsteller mit anwaltlichem Schriftsatz vom 26. August 1996, in dem Schuljahr 1996/97 ihn vom Chemieunterricht zu befreien. Zur Glaubhaftmachung: Antrag vom 26. August 1996 Ergänzend wandte sich der Antragsteller mit anwaltlichem Schriftsatz vom 26. August 1996 an den zuständigen Schulaufsichtsbeamten in dem Bemühen, ggf. zu einer tragbaren pädagogischen Lösung zu gelangen. Im einzelnen wurde wie folgt vorgetragen "Wie Sie wissen, nimmt der Schüler Benjamin Kiesewetter seit dem 19.2.1996 nicht mehr am Chemieunterricht teil. Seine Bitte um Befreiung vom Chemieunttericht wurde vom Schulleiter abgewiesen. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden. Daß grundsätzlich eine Schulbesuchspflicht gegeben ist, ist unstreitung, doch kann gleichwohl im Einzelfall ein Anspruch auf Befreiung von einzelnen Unterrichtsfächern gegeben sein. Ich verweise insoweit auf mein Schreiben vom 14.6.96. Aus der Tatsache, daß die Befreiung von einem einzelnen Unterrichtsfach begehrt wird, welches nach der 11. Klasse ohnehin abgeschlossen wird, kann nicht auf einen mangelnden Bildungswillen geschlossen werden. Bei förderkundiger Betrachtung wäre es für Benjamin Kiesewetter sicherlich einfacher, in stiller Verweigerung dem Unterricht physisch beizuwohnen. In diesem Falle würde die physische Anwesenheit, nicht die geistige und psychische Präsenz honoriert werden. Daß Benjamin Kiesewetter den persönlich und rechtlich schweren Weg des Nichterscheinens zum Chemieunttericht wählt, spricht für die Redlichkeit des Auftretens und die Lauterkeit der Motive. Der Bildungswille offenbart sich dabei zugleich auch in der Notwendigkeit der Auseinandersetzung. Ich gehe davon aus, daß der Schulaufsicht bei weiter bestehenden Interessengegensätze an einer pädagogisch sinnvollen Lösung des Einzelfalls gelegen ist". Zur Glaubhaftmachung: Schreiben vom 26. August 1996 Mit Bescheid vom 4. September 1996 teilte der Schulleiter der Robert-Blum-Oberschule mit, daß er den Antragsteller auch im Schuljahr 1996/97 nicht vom Chemieunterricht befreien könne. Vorsorglich wies er darauf hin, daß er bei andauernder Verweigerung des Chemieunterrichts - ohne Bewertung der angeführten Gründe - gezwungen sei, den Antragsteller wie alle Schüler entsprechend den Ausführungsvorschriften über Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen zu behandeln. Zur Glaubhaftmachung: Schreiben vom 4. September Am 1. Oktober 1996 teilte der zuständige Schulrat dem Antragsteller mit, daß er mit dem Ausschluß von der Schule bedroht sei. Eine schriftliche Begründung erging nicht. Dem Antragsteller wurde jedoch bekannt, daß für den 24. Oktober 1996 eine Gesamtkonferenz zu diesem Thema einberufen worden sei. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 21. Oktober 1996 wurde gegen die Befreiung vom Chemieunterricht für das Schuljahr 1996/97 Widerspruch eingelegt und nochmals beantragt, den Antragsteller vom Chemieunterricht zu befreien. Hinsichtlich der angekündigten Erziehungsmaßnahmen wurde wie folgt vorgetragen: "Die zugrundeliegende Rechtsfrage ist nicht geklärt. Durch die Einleitung von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen wird die ungeklärte Rechtsfrage aus der Sicht des Schülers zu einem Disziplinierungsinstrument. Die Redlichkeit des Auftretens und die Lauterkeit der Motive wird weder anerkannt noch gewürdigt. Im übrigen ist die Androhung des Ausschlusses bzw. ein möglicher Ausschluß unverhältnismäßig. Ist nach Ziffer 3 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften über Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen davon auszugehen, daß dann, wenn ein nicht mehr schulpflichtiger Schüler im Verlauf von sechs Monaten an mehr als 14 Schultagen dem Unterricht ganz oder stundenweise unentschuldigt fernbleibt, der Ausschluß von der besuchten Schule anzuordnen, doch ist zweifelhaft, ob diese Regelung mit dem Sinngehalt von Paragraph 55 des Schulgesetzes in Einklang steht. Das Schulgesetz selbst sieht bei den Erziehungsmaßnahmen eine Staffel vor, wobei sich der "Strafrahmen" an dem bisherigen schulischen Verhalten zu orientieren hat. Insoweit gehen die Ausführungsvorschriften an dem am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Schwere des Vorwurfs orientierten Gesetz vorbei und schaffen eine über das Gesetz hinausgehende Benachteilung. Soweit in den Ausführungsvorschriften darauf abgestellt wird, daß von der Maßnahme abgesehen werden kann, wenn der Schüler künftig am Unterricht teilnehmen wird oder besondere pädagogische Gründe dies rechtfertigen, wird durch das darin zum Ausdruck gebrachte Wohlverhalten der in Art. 19 GG garantierte Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes ausgehöhlt. Aus der Sicht des Schülers stellt sich die Ablehnung der Befreiung vom Chemieunterricht als belastender Verwaltungsakt dar. In der Regel kommt dem Widerspruch gegen einen belastenden Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung zu. Dies gilt aber dann nicht, wenn - obgleich gegen die Ablehnung Widerspruch eingelegt wurde - der Verbleib an der Schule nur dann gesichert wird, wenn der Widerspruchsführer entgegen seiner eigenen Überzeugung am Chemieunterricht teilnimmt. Der Grundsatz auf effektiven Rechtschutz gem. Art. 19 GG stellt nicht nur ein Verfahrensgrundrecht dar, sondern soll tatsächlich effektiven Rechtschutz gewähren. Dies ist dann nicht gegeben, wenn vor der Entscheidung das erzwungene Wohlverhalten steht." Zur Glaubhaftmachung: Widerspruch vom 21. Oktober 1996 Am 23. Oktober 1996, also noch vor der Gesamtkonferenz, kündigte der Antragsteller an, daß er grundsätzlich an der von ihm vertretenen Position festhalte und weiterhin auf politischer und rechtlicher Ebene gegen die Haltung der Schule und Schulverwaltung vorgehen werde, gleichzeitig aber am Chemieunterricht teilnehmen werde. Die Teilnahme am Chemieunterricht erfolge aus Angst und um sich vor einem Ausschluß von der Schule zu schützen. Zur Glaubhaftmachung: Protesterklärung vom 23. Oktober 1996 Der Antragsteller nimmt seither am Chemieunterricht teil. Mit an die Erziehungsberechtigte des Antragstellers gerichteten Schreiben vom 14.11.96 sprach die Antragsgegnerin die Umschulung in eine andere Schule mit demselben Bildungsziel aus. Dabei wurde darauf verwiesen, daß die Gründe der Ordnungsmaßnahme der Mutter des Antragstellers in einem Gespräch vom 14.6. und 14.11.96 ausführlich erläutert worden seien. Zur Glaubhaftmachung: Bescheid vom 14.11.96 Gegen den Bescheid vom 14.11.96 legte der Antragsteller mit anwaltlichem Schriftsatz Widerspruch ein. Zur Glaubhaftmachung: Widerspruch Auch nach Widerspruch besucht der Antragsteller weiterhin die Robert-Blum-Oberschule, doch wurde ihm am 25. November 1996 gegen 10.00 Uhr mitgeteilt, daß er die Schule nicht weiter besuchen dürfe. Wenn er versuchen solle, am Unterricht teilzunehmen, so werde Hausverbot erteilt werden. Formal wurde die sofortige Vollziehung nicht angeordnet, doch ist die Antragsgegnerin offensichtlich nicht bereit, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs zu beachten. Antrag auf vorläufigen Rechtschutz ist daher erforderlich. Der Antrag ist zulässig und begründet. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin handelt es sich bei der Umschulung in eine andere Schule mit demselben Bildungsziel um einen belastenden Verwaltungsakt. Dem Widerspruch hiergegen kommt daher aufschiebende Wirkung zu. Daß die Umschulung - obwohl isoliert betrachtet eine gewährende Maßnahme - gleichwohl ein belastender Verwaltungsakt ist, ergibt sich daraus, daß die Umschulung zugleich auch die Beendigung des Schulverhältnisses an der gegenwärtig besuchten Schule bedeutet und insoweit einem konkreten Schulausschluß von der besuchten Schule gleichkommt. In den Ausführungsvorschriften über Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen wird zu Ziffer 6 davon ausgegangen, daß es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelt, da bei diesen Maßnahmen ausdrücklich auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung hingewiesen wird. Im übrigen ist die Umschulung rechtsfehlerhaft, da die Entscheidung verfahrensfehlerhaft zustandegekommen ist. Materiell ist sie unverhältnismäßig, zumal der Antragsteller seit Bekanntwerden der Androhung den Chemieunterricht wieder regelmäßig besucht. Aus den Darlegungen des Antragstellers in seiner Begründung für die Freistellung vom Chemieunterricht ergibt sich, daß er nicht leichtfertig handelt, sondern der Entscheidung des Antragstellers ein langer Entscheidungsfindungsprozeß zugrundeliegt. Daß der Antragsteller trotz der entgegenstehenden persönlichen Auffassung wieder am Chemieunterricht teilnimmt, bedeutet gerade, daß zum einen grundsätzlicher Bildungswille gegeben ist, zum anderen, daß er die Schule konkret weiterbesuchen will. Vor weiterer Begründung bitte ich um A k t e n e i n s i c h t in die von der Antragsgegnerin vorzulegenden Verwaltungsvorgänge und Mitteilung, wann mir diese zur Einsichtnahme unter Mitnahme in meiner Kanzlei zur Verfügung stehen. Zugleich bitte ich vorab von der Antragsgegnerin die Zusicherung einzuholen, daß der Antragsteller bis zur Entscheidung über den Antrag weiterhin seine bisherige Klasse besuchen kann. Der von der Antragsgegnerin faktisch vollzogene Ausschluß von der Schule mit der Verpflichtung, sich bei einer anderen Schule anzumelden, führt für den Antragsteller zu einer unzumutbaren Situation. Trotz aufschiebender Wirkung des Widerspruchs wird er gehalten, kurzfristig eine andere Schule zu besuchen. Er wird hierdurch aus dem Klassenverband herausgerissen und in eine Situation gebracht, in der weder eine kontinuierliche schulische Arbeit noch eine Beurteilung der Leistungen möglich ist. Beglaubigte Abschrift anbei Brückner, Rechtsanwalt |