Anschreiben an den Schulleiter
Benjamin Kiesewetter Langenscheidtstr.12 10827 Berlin Robert-Blum-Schule Schulleitung Herrn Kraschewski Kolonnenstr. 22-23 10829 Berlin 28. Februar 1996 Teilnahme am Chemieunterricht im 2. Halbjahr der 10. KlasseSehr geehrter Herr Kraschewski! Ich habe beschlossen, im laufenden 2. Schulhalbjahr 95/96 den Chemieunterricht nicht mehr zu besuchen. Meine erziehungsberechtigte Mutter Dagmar Kiesewetter ist mit dieser Entscheidung einverstanden und übernimmt in den entsprechenden Freistunden die volle Verantwortung. Da ich meine Unterrichtsverweigerung wie folgt begründe, beantrage ich, im Fach Chemie zukünftig nicht mehr benotet zu werden. Mit freundlichen Grüßen gez. Benjamin Kiesewetter, Dagmar Kiesewetter |
Begründung 1. Ich halte die Lerninhalte des Chemieunterrichts für überflüssig.Ich habe vom 29.1. bis zum 2.2.1996 in unserer Schule eine Umfrage bei 20 Lehrern durchgeführt. Sie sollten einige der Fragen beantworten, die mir in letzter Zeit im Chemieunterricht aufgetragen wurden. Herausgekommen ist, daß 95% der Lehrer keine der vier Wissensfragen richtig beantworten konnten, sofern sie nicht selbst Chemie unterrichteten (siehe Anhang). 65% der Befragten waren zudem der Meinung, daß sie dieses Wissen "In ihrem Beruf und Alltag" auch nicht benötigten. 70% allerdings hielten es für nötig, "daß Schüler gezwungen werden, dieses Wissen zu lernen, in Tests die genannten Fragen beantworten sollen und danach bewertet werden". Interessant ist, daß genau 100% dieser Fürsprecher des Pflichtunterrichts in Chemie weder die allgemeine Summenformel der Alkane angeben noch den Ablauf der Beilsteinprobe erklären, geschweige denn zu den Formeln Co, C6H12 und K2CO3 die richtigen Stoffe oder Stoffverbindungen angeben konnten. Fakt jedenfalls ist, daß die befragten Lehrer über genau das, was ich lernen muß, überhaupt keine Ahnung haben. Eine Emnid- Umfrage im Auftrag des Spiegel besagt, daß 59% der Westdeutschen noch nicht einmal die Formel für Kohlendioxid kennen (1). Das Fazit dieser Fakten ist: Trotzdem es die Schule gibt, die die Schüler zwingt, chemische Formeln u.ä. zu lernen, wissen die Menschen kurz nach diesem Vorgang kaum mehr etwas davon. Viele Lehrer fragten mich, nachdem ich sie nach der allgemeinen Summenformel der Alkane gefragt hatte, was Alkane denn seien. Dies ist für mich der Beweis für die Uneffektivität und Nutzlosigkeit des Unterrichts. M. E. kann Wissensvermittlung gar nicht effektiv sein, wenn Schüler sich nicht für den Stoff interessieren. Ich sehe allein deshalb nicht ein, warum ich mich noch weiterhin mit Chemie herumquälen soll, wenn es jetzt schon absehbar ist, daß auch ich später nichts mehr davon wissen werde. Ich habe relativ klare Vorstellungen davon, was ich später machen möchte und ich bin mir ziemlich sicher, daß das relativ wenig mit Chemie zu tun hat. Falls doch wider Erwarten der Fall eintreten sollte, daß ich etwas davon brauche, wird es nicht das Problem sein, es nachzulernen. 2. Der Chemieunterricht verschwendet meine Zeit und meine Kräfte.Der Chemieunterricht stellt somit für mich eine Zeitverschwendung dar. Da ich diese Zeit dazu nutzen könnte, etwas anderes zu lernen, was mir mehr Spaß macht, was mich mehr interessiert und ich damit auch besser für mein Leben gebrauchen könnte, stellt der Chemieunterricht für mich eine Lernbehinderung dar. Der Chemieunterricht ist auch insofern eine Lernbehinderung für mich, als daß er einen Platz in meinem Gehirn beansprucht, den ich gerne mit anderen Dingen belegen würde. Ich werde schließlich nicht nur gezwungen, körperlich anwesend zu sein, sondern soll mich auch noch geistig mit dem Thema befassen, Formeln und chemische Zusammenhänge auswendig lernen, die für mich völlig belanglos sind und mich nicht im geringsten interessieren. "In der Arbeitswelt der Erwachsenen hat sich die durchschnittliche Arbeitszeit in den vergangenen 40 Jahren drastisch reduziert. Starke Gewerkschaften haben humanere Arbeitsplatzbedingungen erkämpft. Für die Verringerung der Arbeitszeit der Schüler hat sich bislang noch kaum jemand eingesetzt. Erst jetzt, im Zusammenhang mit Stundentafelkürzungen und drohendem Lehrermangel werden die Arbeitszeiten der Schüler problematisiert" (2). Mit der Weigerung, am Chemieunterricht noch weiterhin teilzunehmen, verringere ich den Anteil von fremdbestimmter Lebenszeit. 3. Die Unterrichts- und Lernbedingungen sind gesundheitsgefährdend und schaden meiner Entwicklung.Ich werde von meiner Chemielehrerin Frau P. einem enormen Druck ausgesetzt. Wenn ich etwas bestimmtes nicht weiß, versucht sie, mich vor der Klasse lächerlich zu machen. Gegen ihren Willen werden Schüler gezwungen, vor den anderen an der Tafel Gleichungen zu lösen, auch wenn schon vorher feststeht, daß sie dies nicht können. Frau P. nimmt sich das Recht heraus, wöchentlich zwei Chemieordner von Schülern mitzunehmen, unsere Lernweise zu "korrigieren" und in unsere Aufzeichnungen mit rotem Stift dazwischenzukrakeln. Durch leistungsorientierten, schnellen und hektischen Unterricht kommt es sehr oft vor, daß wir bestimmte Zusammenhänge nicht sofort mitbekommen und in - unter Zwang - erstellten Protokollen Fehler entstehen. Diese Fehler wertet Frau P. nicht etwa so, daß sie zukünftig darauf achtet, daß es alle verstanden haben. Im Gegenteil: Die Schüler werden dafür schuldig gemacht, ihnen werden schlechte Zensuren eingetragen und in vielen Fällen sollten sie zu Hause das nacharbeiten, was Frau P. im Unterricht schlecht erklärt hat. Zudem erwartet sie von Schülern, daß sie ihnen das Klassenbuch vom Lehrerzimmer in den 3.Stock hochbringen. Nachdem ich im Unterricht eine falsche Antwort gab, mußte ich mir von Frau P. anhören, ich lebte "hinter dem Mond". Dergleichen einem Lehrer vorzuwerfen, der die im Unterricht üblichen Fragen nicht beantworten konnte, käme einer Beleidigung gleich. Diese im Chemieunterricht herrschenden Lernbedingungen lösen Streß und Angst aus. Es wurde längst nachgewiesen, daß dies die Gesundheit von Schülern gefährden kann (2). Deshalb weigere ich mich, mich ihnen weiterhin auszusetzen. 4. Erkenntnisse aus Lernbiologie und Psychologie zeigen, welchen Schaden unfreiwilliges Lernen anrichten kann.Wenn ich mich später doch noch für einen Chemieberuf entscheiden sollte, werde ich kaum darunter leiden, daß ich ab jetzt nicht mehr am Chemieunterricht teilnehme. Ich bin mir umgekehrt jedoch sicher, daß die Wahrscheinlichkeit, daß ich mich jemals für Chemie interessieren werde, mit jeder Chemiestunde, in die ich hineingezwungen werde, kleiner wird. Dies bestätigen lernbiologische Erkenntnisse aus den letzten Jahren. Da ich im Chemieunterricht nur gegen meinen Willen lerne, speichert mein Gehirn nämlich nicht nur das gelernte Wissen, sondern auch gleichzeitig das "ungute Gefühl" dabei. Ich werde mich also immer nicht nur an das Wissen erinnern, sondern auch an das Gefühl, dazu gezwungen worden zu sein. Somit wird es für mich in Zukunft immer schwerer sein, mit der Chemie irgend etwas Positives zu verbinden. "Lernbiologische Erkenntnisse weisen darauf hin, daß wir Erfahrung immer ganzheitlich speichern, also eben auch unser individuelles Erleben der Lernsituation" (3, Seite 48). "Statt dem menschlichen Gehirn beibringen zu wollen, wie es zu lernen hat, sollten wir unser Lernen so einrichten, daß es der Funktionsweise unseres Gehirns gerecht wird" (3, Seite 39). Bereits 1973 hat Frederic Vester mit seiner (mehrfach wiederholten) Fernsehserie Denken, Lernen, Vergessen einem Millionenpublikum demonstriert, daß diese Schule das Lernen geradezu verhindert, die Lernfähigkeit buchstäblich tötet" (4, Seite 190). Darauf kommt Vester, weil der Lernzwang "ganz spezifische Dauerblockaden erzeugt, die entweder mit bestimmten Themen verknüpft oder gar auf das Lernen als solches gerichtet sind - das Denken setzt aus, sobald irgend etwas als Lernen empfunden wird" (5). Ich halte mich eigentlich für einen wißbegierigen, lernfähigen und lernfreudigen Schüler. Ich glaube, daß jeder Mensch von Natur aus lernen will, wie nicht nur Frederic Vester, sondern z.B. auch Rolf Robischon in seinem Buch "Lernen ist wie atmen" und viele andere ernsthafte Autoren festgestellt haben. Ich möchte unbedingt verhindern, daß mir meine Lernfähigkeit und Lernfreude kaputtgemacht wird, obwohl ich mehr und mehr sehe, daß ich auf dem besten Weg dahin bin. Es ist zum Beispiel der Chemieunterricht, der in mir Haß- und Verzweiflungsgefühle hochkommen läßt. Ich glaube fest daran, daß das nicht sein muß. 5. Zusammenhang von Schulabschluß und SchulpflichtIch brauche den Chemiestoff auch nicht fürs Abitur, da ich Chemie ja nach der elften Klasse abwählen kann. Es ist für mich auch keine Alternative von der Schule zu gehen und z.B. mein Abitur nicht zu machen (abgesehen davon, daß ich noch schulpflichtig bin). "Die Schule will kein Wissen für das Leben vermitteln, sondern ihren Schülern den Zugang zu qualifizierten, gutbezahlten Berufen so schwer wie eben möglich zu machen (...) Wer es schafft, trotz dieser Hindernisse das Abi-Zeugnis als Eintrittskarte zur Uni zu bekommen, hat bewiesen, daß er auch den größten Blödsinn gehorsam frißt, wenn es von ihm verlangt wird. Solche Leute braucht nicht nur die Bundeswehr, sondern unsere ganze Gesellschaft - jedenfalls glauben das noch immer zahlreiche Lehrer, und deshalb ist die Schule so, wie sie ist" (6, Seite 20). Meine Weigerung, am Chemieunterricht noch weiter teilzunehmen, ist der Versuch, die Eintrittskarte zu bekommen ohne zu verblöden. Ich möchte nicht, daß mir die Möglichkeit genommen wird, mich jemals wieder für Chemie zu interessieren, und ich möchte nicht, daß meine Wißbegierde und Lernfähigkeit "getötet" (4) oder zerstört wird. 6. Kinderrechtliche, menschenrechtliche, juristische und gehirn- forschungstechnische Erkenntnisse weisen darauf hin, daß der Lernzwang verfassungswidrig ist und sich somit nicht mehr lange halten kann.Schon 1974 schrieb der Kinderrechtler John Holt über das "Recht, sein Lernen selbst zu bestimmen": "Kein Menschenrecht - vom Recht auf Leben selbst abgesehen - ist fundamentaler als dieses. Die Freiheit des Menschen zu lernen, ist Teil seiner Gedankenfreiheit und noch grundlegender als seine Redefreiheit. Wenn wir jemandem sein Recht nehmen, selbst zu bestimmen, worüber er neugierig sein wird, zerstören wir seine Gedankenfreiheit. Letztenendes sagen wir ihm damit: du darfst nicht über das nachdenken, was dich interessiert und betrifft, sondern nur über das, was uns interessiert und betrifft" (7, Seite 188). Er kommt zu dem Ergebnis: "Schulen gehören m.E. zu den antidemokratischsten, autoritärsten, zerstörerischsten und gefährlichsten Institutionen der modernen Gesellschaft. Keine andere Institution fügt mehr Menschen einen größeren oder länger anhaltenden Schaden zu und macht so viel von ihrer Neugier, ihrer Unabhängigkeit, ihrem Vertrauen, ihrer Würde und ihrem Identitäts- oder Wertgefühl zunichte wie die Schule. Selbst ziemlich nette und freundliche Schulen werden in ihrer Freundschaft gehemmt und korrumpiert durch die - sowohl bei den Kindern als auch bei den Lehrern vorhandene - Gewißheit, daß sie eine Pflicht erfüllen um des Urteils und des Beifalls anderer willen: die Kinder für die Lehrer; die Lehrer für die Eltern, für die Aufseher, für die Schulleitungen oder für den Staat. Niemand an der Schule ist jemals frei von dem Gefühl, daß er die ganze Zeit beurteilt wird oder bald beuteilt werden könnte" (7, Seite 194). John Holt stellt hier den Lernzwang als Verstoß gegen ein Menschenrecht dar. 1990 hat der Gehirnforscher und Jurist Dr. Gerhard Huhn die "Verfassungswidrigkeit staatlicher Regelungen von Bildungszielen und Unterrichtsinhalten vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Gehirnforschung" angeprangert (8): "Es besteht insoweit Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines erheblichen Anteils dieser Regelungen, als bei ihrer Verabschiedung Erkenntnisse der Anthropologie und die physiologisch-psychologischen Gehirnforschung der letzten drei Jahrzehnte bisher offensichtlich nicht berücksichtigt wurden. Diese Erkenntnisse können jedoch für die Frage der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2, Abs. I GG) von erheblicher Bedeutung sein" (8, Seite 2). "Insbesondere könnten sich bei den die Einzelheiten der Unterrichtsgestaltung, der Benotung, der Versetzung und Abschlußprüfung regelnden Bestimmungen Verletzungen der Persönlichkeitsrechte der Schüler ergeben" (ebenda). Der Gehirnforscher Huhn findet es "naheliegend", "daß (...) auch grundsätzliche Bedenken gegen (...) die juristische Regelung der generellen Schulpflicht hergeleitet werden könnten" (ebenda). Es gibt also nicht nur Erkenntnisse, daß ich das Wissen, was ich im Chemieunterricht lerne, nicht brauche. Es gibt nicht nur medizinische Erkenntnisse, daß diese Schule meiner Gesundheit schadet. Es gibt nicht nur Erkenntnisse von Psychologen und Gehirnforschern, daß dieses unfreiwillige Lernen meine Lernfähigkeit zerstören könnte. Sondern das alles behindere auch noch meine "freie Entfaltung" und sei somit nach Meinung von ernstzunehmenden Juristen sogar verfassungswidrig. Und jetzt soll ich das Pech haben, fünf Jahre zu früh dagewesen zu sein, bis dieser Verfassungswidrigkeit endlich Abhilfe geschaffen wird? Die Tatsache, daß ich zum Chemieunterricht gezwungen werde, verstößt nicht nur gegen mehrere Artikel im Grundgesetz (Die Würde des Menschen ist unantastbar, Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, Pflege und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern [...], Alle Deutschen genießen Freizügigkeit [...], Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden [...], etc.), sondern auch gegen §1 des Berliner Schulgesetzes, in dem festgelegt ist: "Aufgabe der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Kinder und Jugendlichen zur vollen Entfaltung zu bringen (...). Ich wünsche mir eine offene Diskussion bei Lehrern und Schülern zu diesem Thema und meinem zukünftigen Fernbleiben vom Chemieunterricht. BENJAMIN KIESEWETTER Kopien an Klassenlehrerin Frau ZY. Chemielehrerin Frau YZ. Fachbereichsleiter Chemie Herrn XZ. Vertrauenslehrerin Frau XY. Schülervertretung (1) zitiert in: "Es geht auch ohne Goethe", Der Spiegel 7/95, Seite 192 (2) Detlef Träbert: "Schule gefährdet die Gesundheit", Pädagogik 3/93, Seite 60 (3) Bernd Sensenschmidt: "Lernen in Erziehungsvorgängen / Der Beitrag der Lernbiologie zur Erziehungskritik" in Wolfgang Hinte (Hg.): "Vertrauen überwindet Angst / Beiträge zur Entlastung vom Erziehungsanspruch", Frankfurt a. M. 1995, dipa- Verlag (4) Ekkehard von Braunmühl: "Zur Vernunft kommen / Eine Antipsychopädagogik", Weinheim und Basel 1990, Beltz Verlag (5) Frederic Vester: "Denken, Lernen, Vergessen", 6. Auflage, München 1980, dtv (6) Dieter Heckenschütz: "Lehrer - ärger dich! Überlebenshilfe für clevere Schüler", Frankfurt a.M. 1995, Eichborn Verlag (7) John Holt: "Zum Teufel mit der Kindheit / Über die Bedürfnisse und Rechte von Kindern", Wetzlar 1978, Verlag Büchse der Pandora (8) Gerhard Huhn: "Kreativität und Schule / Risiken derzeitiger Lehrpläne für die freie Entfaltung der Kinder / Verfassungswidrigkeit staatlicher Regelungen von Bildungszielen und Unterrichtsinhalten vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Gehirnforschung", Berlin 1990, VWB Verlag Wissenschaft und Bildung, Synchron Verlag |