K.R.Ä.T.Z.Ä. - KinderRÄchTsZÄnker - www.kraetzae.de
Schule > Unterrichtsverweigerung > Briefwechsel mit der Vertrauenslehrerin

Briefwechsel mit der Vertrauenslehrerin

Berlin, 16. März 1996

X. Y.
Vertrauenslehrerin 
Robert-Blum-Schule 


An 
Benjamin Kiesewetter, 10. Klasse 
Robert-Blum-Schule 


Betr.: Schreiben v. 28.2.1996 Bitte um Befreiung vom Chemieunterricht und Antrag, diese "Unterrichtsverweigerung" nicht zu benoten

Lieber Benjamin, 

In Deinem Brief stellst Du fest, daß der Chemieunterricht für 
Dich Zeitverschwendung darstelle, sogar lernbehindernd sei, Du 
bezeichnest ihn als "fremdbestimmt" (S. 1/2) und begründest 
das ausführlich. 
Du bist sicher, daß die Wahrscheinlichkeit, daß Du Dich niemals 
für einen Beruf, der Chemiekenntnisse vorraussetzt, 
entscheiden wirst, schon allein deshalb, weil Dein Gehirn - 
bedingt durch den Lernzwang - blockiert werde und der 
Chemieunterricht "Haß- und Verzweiflungsgefühle" (S. 3) in Dir 
auslöse. 
Du zitierst Lerntheoritiker, die der Ansicht sind, daß jemand, der 
sich trotz der absichtlichen schulischen Hindernisse mit dem 
Abitur die "Eintrittskarte zur Uni" verschafft habe, der gehorsame 
Typ geworden sei, den Bundeswehr und Gesellschaft brauchten 
(S. 3). 
Du weist zudem nach, daß Dir Deine Selbstbestimmung 
genommen werde, wenn Du weiter am Chemieunterricht 
teilnehmen mußt und daß der Lernzwang ein Verstoß gegen die 
Menschenrechte / Menschenwürde sei (S. 4) und damit ein 
Verstoß gegen das Grundgesetz darstelle. 

Benjamin, Du hast auf einer bestimmten Ebene recht: 
Viele Lerninhalte sind überflüssig und führen zu Denkblockaden 
(ob sie gar gesundheitsschädlich sind, wage ich zu bezweifeln). 

ABER: 

Du richtest Deine Schulkritik an die falsche Adresse. 
Weder die von Dir besuchte Schule noch die von Dir kritisierte 
Kollegin sind Urheber Deines Leidens. 

Du bedenkst nicht, daß wir eine staatliche, allgemeinbildende 
Schule sind, die verpflichtet ist, alle Schüler möglichst breit 
auszubilden, um ihnen eine spätere Berufswahl zu ermöglichen. 

Deine beachtliche Argumentation hat eine Schwachstelle: 
Unter Punkt 3 wirst Du persönlich - und das entwertet Deine 
sonst runde Argumentation. 


Zu Punkt (3) 

Du behauptest, die Chemielehrerin (Du nennst sie, was in 
diesem Zusammenhang nicht fair ist, beim Namen) setzte Dich 
"einem enormen Druck" aus, mache Dich lächerlich, nehme sich 
"das Recht heraus", Ordner einzusammeln und 'krakele' mit Rot 
'dazwischen', erkläre schlecht, so daß man nacharbeiten müsse, 
lasse sich das Klassenbuch "hochbringen" und beleidige Dich. 
- Hier scheint es also gar nicht um redundante Lerninhalte zu 
gehen, sondern um die Person! 
Sie soll also offensichtlich keine Ordner einsammeln, oder aber 
wenn schon, diese nicht korrigieren, sie soll das Klassenbuch 
selber holen und ansonsten so erklären, daß ein Nacharbeiten 
sich erübrigt. 
Dazu laß Dir sagen: 
Auch ich sammle ein (leider viel zu selten), korrigiere, lasse 
nacharbeiten, erkläre oft herzlich schlecht und lasse mich 
bedienen (Kreide, Klassenbuch). - Warum greifst Du eine 
Kollegin an und nicht uns alle? 
Allein Deine Diktion ("nimmt sich das Recht heraus", 
'dazwischenkrakeln', S. 2) zeigt, daß Dein Brief ein persönlicher 
Angriff ist! 


Zu Punkt (2) 

Benjamin, es gibt eine Lösung für Dein Problem, und die ist 
nicht einmal neu: Du solltest Privatschulen fordern, die dem, der 
es bezahlen kann, eine lernfreundliche Atmosphäre bieten 
(wenig Schüler, handverlesene Lehrer) und all denen, die aus 
einem bildungsbürgerlichen Haushalt kommen, eine frühe 
Spezialisierung ermöglichen, denn diese Kinder / Jugendlichen 
wissen in der Tat oft früh, was sie wollen. Bildungsdefizite sind 
hier nicht zu befürchten, da studierte Eltern ihre Kinder begleiten 
können. 
Viele Länder haben diese Privatschulen: Entsprechend ist dort 
die Welt auch in Ordnung: Oberschicht Kinder werden (für 
teures Geld) privat ausgebildet und rutschen wie 
selbstverständlich in die hochdotierten Posten, 
Unterschichtkinder verrotten auf (überfüllten) staatlichen 
Schulen und bilden dann später den breiten sozialen Ausschuß 
ohne Aufstiegschancen. 
- Willst Du das wirklich? 
Wenn nicht, dann betrachte einmal die einzig möglich 
Alternative, die staatliche Schule. In Deutschland gibt es (im 
Prinzip) nur staatliche Schulen / Abschlüsse, das heißt, der 
Zugang steht allen offen (das ist der Vorteil), das heißt aber 
auch, der Staat bestimmt die Lerninhalte (das ist häufig der 
Nachteil). 
Der Staat muß das tun, um Chancengleichheit und 
Vergleichbarkeit zu ermöglichen, täte er das nicht, würde sehr 
bald eine Robert-Blum-Abitur nichts mehr gelten, ein 
Zehlendorfer Abitur dafür um so mehr. 

Und damit zu 

Punkt (1) 

Sollte es Dir wirklich ernst damit sein, daß Du gegen Dir 
überflüssig erscheinende Lerninhalte (und nicht gegen eine 
Person!) ankämpfst, dann solltest Du Deine Kritik nicht an uns, 
sondern an den Staat richten. 
Lehrpläne werden von ihm gemacht, nicht von uns Lehrern und 
schon gar nicht von einem einzelnen Lehrer. 
Der Grund dafür dürfte klar sein, siehe oben. 
Damit dürfte auch klar sein, daß Deinem Antrag auf Befreiung 
vom Chemieunterricht nicht stattgegeben werden kann, nicht 
einmal eine Befreiung von der Protokollpflicht ist möglich, denn 
sie ist im Rahmenplan (Bestimmung 4.1) verankert. 
Du bist auf einer staatlichen Schule! 


Zum Schluß: 

Deine Argumentation ist - soweit sie nicht persönlich ist - gut. 
Sie regt zum Nachdenken an. 
Aber: Niemand will Dich zu einem angepaßten Bürger erziehen, 
wie Du vermutest, mache weiterhin den Mund auf (bzw. spitze 
die Feder). Dein Vorwurf aber, der Staat brauche Bürger, die 
gehorsam alles Fressen (S. 3) und deshalb sei die Schule so 
wie sie sei (nämlich unterdrückend) - der ist falsch. 
Richtig ist, daß innovative, selbständige, sogar sozial denkende 
Menschen (Teamwork) in der Industrie gebraucht werden. Kern 
des Problems ist, daß die Schule da hinterherhinkt, sie trägt 
noch zu viele Züge eines überholten preußischen Systems. 
Wir Lehrer machen entsprechend einen pausenlosen Spagat: 
Hier Preußen - da moderne Industriegesellschaft. 
Dieser Spagat ist nicht angenehm, das kannst Du uns glauben, 
wir würden auch lieber sagen können: Gut, Ausbildung für die 
Moderne (d.h. heißt weg mit Latein, weg mit Goethe etc.) - und 
das vom bequemen Sessel aus. 
Spagat ist nämlich anstregend! 

Umso mehr habe ich auch Gründe, Deinen Brief zu kritisieren: 
Du greifst Dir eine(n) heraus, weil er Dir nicht paßt. 
Du kritisierst ihn, weil er tut, was alle tun (Korrekturen etc.). 
Du kritisierst ihn, weil er das tut, was er muß (Rahmenplan). 

Mein Vorschlag: 
Kämpfe da, wo es richtig ist: 

Kritisiere den Staat (und nicht die einzelne Person)! 
Boykottiere nicht den kritisierten Bereich. 
Wer nur Nein sagt, baut nicht auf sondern zerstört. 
Lies Heinrich v. Kleists "Michael Kohlhaas" und / oder schau Dir 
den Film "Ragtime" an. 
Auf die Diskussion mit Dir freue ich mich! 

Mit - trotzdem! - freundlichem Gruß 
A.K.

Der Antwortbrief

Benjamin Kiesewetter
Langenscheidtstr. 12
10827 Berlin


X. Y.
Vertrauenslehrerin
Robert-Blum-Schule


Berlin, 11.4.1996


Schreiben vom 16.3.96

Liebe X.,

vielen Dank für Dein Schreiben. Ich möchte in meiner Antwort 
Mißverständnisse aus dem Weg räumen, Fehler zugeben und 
mit Argumenten einige Behauptungen widerlegen. Ich gehe 
zuerst Deine drei wichtigsten Argumentationsfelder durch:

1. "Du wirst persönlich"

Es gibt verschiedene Gründe, die mich dazu bewegt haben, den 
Chemieunterricht in Zukunft nicht mehr zu besuchen. Der 
wichtigste (deshalb auch unter Punkt 1 aufgeführt) war, daß ich 
festgestellt habe, daß mich die Inhalte nicht interessieren. Ich 
habe begründet, daß es ohne Interesse kein effektives Lernen 
geben kann. Ich kann aber nicht begründen, warum es mich 
nicht interessiert, sondern im Großen und Ganzen nur mitteilen.

Ein anderer Grund war, daß ich mich u.a. deshalb dort 
überhaupt nicht mehr wohlgefühlt habe. Das kann ich 
begründen - und das geht nur durch das Schildern konkreter 
Abläufe im Chemieunterricht. Mein Brief soll kein Angriff sein - 
und es tut mir leid, wenn dies so aufgefaßt wurde. Ich 
beschwere mich nicht über die genannte Chemielehrerin, und 
es geht mir nicht darum, daß sie sich oder ihre 
Verhaltensweisen ändert. Ich möchte nur das Recht haben, 
mich ihr und ihren Verhaltensweisen zu entziehen. Und ich 
möchte begründen, warum ich das möchte. Darum geht es in 
Punkt 3 meiner Begründung.

2. "Wende Deine Kritik an den Staat!"

Das scheint mir die Hauptaussage Deines Briefes zu sein. Aber 
wer ist der Staat? Als Beamte seid Ihr - Lehrer - immerhin 
Staatsdiener.

Wie sollte ich Deiner Meinung nach gegen die Ungerechtigkeit, 
daß ich zum Chemieunterricht gezwungen werde, vorgehen, 
wenn ich den Fall nicht an einem konkreten Punkt festnagele? 
Ich versuche genau mit dieser Aktion den Staat anzuklagen, weil 
es durch meine Verweigerung zu einer offiziellen Entscheidung, 
bzw. Diskussion kommen muß. Wie Du ja weißt, versuche ich 
zudem schon seit langem, meine Kritik auf der Basis der 
einfachen Meinungsäußerung anzubringen (siehe auch unser 
Plakat "Was wir an der Schule falsch finden"). Das führt in der 
Diskussion zwar vielfach zu Zustimmung, geändert wird aber 
nichts. Ich finde, es muß jetzt langsam etwas mehr geschehen.

Ich bin der Meinung, daß jeder Mensch dazu stehen sollte, was 
er tut. Es geht dabei nicht darum, ob es andere auch tun, oder 
ob es im Rahmenplan steht. Du schreibst, ich kritisiere eine 
Lehrerin, obwohl sie nur tue, was sie tun müsse (soweit ich mich 
recht entsinne, gilt die Schulpflicht nicht für Lehrer, daher kann 
man von "müssen" eigentlich nicht sprechen). So wie ich die 
Mauerschützenprozesse verstanden habe, kann man sogar für 
bestimmte Handlungen bestraft werden, zu denen man 
"verpflichtet" ist, wenn sie gegen übergeordnete humanistische 
Prinzipien verstoßen.

Beim vorliegenden Fall (als Analogie gesehen) muß ich mich 
jetzt entscheiden, ob ich stumpfsinnig meine Pflicht tue
(Teilnahme am Chemieunterricht) oder nach meiner 
Überzeugung - die ich ja ausführlich begründet habe und mit 
der ich auch nicht alleine stehe - handele. Der Vergleich mit den 
Mauerschützen paßt übrigens auch auf die Lehrer im 
"überholten preußischen System" (wie Du schreibst). Beiliegend 
erhältst Du einen Zeitungsartikel über den Schuldirektor einer 
"staatlichen, allgemeinbildenden" Grundschule Rolf Robischon, 
der seine Schüler nicht zum Lernen zwingt.

3. "Der Staat muß Lerninhalte bestimmen, um 
Chancengleichheit zu erreichen."

Deine Lösung des Problems Lernzwang entspricht nicht meinen 
Vorstellungen. Unseren staatlichen Schulzwang mit 
Chancengleichheit zu rechtfertigen, gelingt auch nicht, wenn 
man genau hinsieht: Wöchentlich werden in Deutschland 30 
Mio. DM an Nachhilfeunterricht ausgegeben, 12 % der 
Berliner Schulabgänger haben keinen Abschluß - und Du 
sprichst von Chancengleichheit in unserem Schulsystem! 
Die oberen und unteren Schichten, die "Kastengesellschaft" 
haben wir - nur ist sie bei uns ein bißchen versteckt worden. Die 
jetzige Staatsschule ist dazu da, zu trennen zwischen 
Menschen, die Abitur haben, Menschen, die einen niedrigeren 
Abschluß haben und Menschen, die keinen haben (kein Geld für 
Nachhilfeunterricht?). Das sind unsere Kasten! Und die Schule 
hat ein Monopol darauf, einzusortieren. Meiner Meinung nach 
kann Chancengleichheit gar nicht erreicht werden, wenn 
Menschen mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten alle 
dasselbe lernen sollen und nach einheitlichen 
Bewertungsmaßstäben gemessen werden.

Ich teile insbesondere nicht Deine Auffassung, daß die einzige 
Alternative Privatschulen für die Reichen sind. Was ich möchte, 
ist das Recht auf Lernen für alle Menschen - mit großem 
Angebot. Und dafür hätten wir genügend Geld, wenn nicht ein 
Großteil des Schuletats dafür ausgegeben würde, die Schüler in 
der Schule zu halten. Die Anwesenheitspflicht und der 
Lernzwang schränken das Lernrecht erheblich ein, weil nach 
sämtlichen Klassenbucheinträgen, Disziplinarmaßnahmen (z.B. 
Klassenkonferenz), Besprechung oder Verfolgung von 
Unterrichtsstörungen Geld, Zeit und Energie fehlt, um wirklich 
beim Lernen zu helfen.


Zu Deinen Vor- und Nachbemerkungen fallen mir noch drei 
Absätze ein:

Du bezweifelst, daß Schule und Lernzwang 
gesundheitsschädlich sind. Hierzu empfehle ich Dir das Buch 
"Ärzte sehen Schule" von Reinhard Lempp und Hans Schiefele 
(Beltz Verlag). Dort wird z.B. festgestellt, daß nahezu ein Drittel 
aller Kinderarztpatienten wegen Schulproblemen kommen.

Deine Behauptung, daß niemand mich zum "angepaßten 
Bürger" erziehen will, teile ich nicht (ich kenne auch mehrere 
Beispiele dafür). Aber selbst wenn mich kein einzelner Lehrer 
zum Gehorsam erziehen wollte, geht es in letzter Konsequenz 
bei der gesamten Schulmaschinerie sehrwohl um Gehorsam. 
Unser Schulsystem stammt - wie die Armee - aus 
vordemokratischen Zeiten. Und wenn die Menschen die 
ersten Jahre ihres Lebens in einer Antidemokratie leben, 
wird es auch nie eine funktionierende "erwachsene" 
Demokratie geben.

"Boykottiere nicht den kritisierten Bereich" schreibst Du. Meine 
Kritik wendet sich primär aber gar nicht gegen den Bereich, 
sondern gegen die Tatsache, daß ich in ihn hineingezwungen 
werde. Ich möchte selbst entscheiden, womit ich mich 
beschäftige.

Mit freundlichen Grüßen

gez. Benjamin Kiesewetter

PS.: Rolf Robischon hat sicherlich nichts dagegen, daß ich Dir 
seine Adresse gebe, falls es Dich interessiert, näheres von ihm 
zu erfahren.

Kopien an: Schulleitung, Chemielehrerin, Schülervertretung, 
Klassenlehrerin und weitere interessierte Menschen.


Zeitungsartikel aus "Publik-Forum":

"Bei mir muß kein Kind Angst haben"

Der Grundschulrektor Rolf Robischon geht neue Wege - und 
bekommt Ärger mit der Kultusbürokratie


"Überall, wo einer Grenzen überschreitet, wird ein Feld erweitert. 
Das macht es uns andern leichter, neue Schritte zu gehen", sagt 
Heinrich Waldschütz, Leiter einer Grundschule im Ortenaukreis. 
Weil er neue Schritte in der Schule für dringend nötig hält, 
empfindet er seinen Kollegen Rolf Robischon als "wohltuende 
Bereicherung": "Er hat recht, Kindern einen positiven Zugang 
zum Lernen zu ermöglichen. Zur Schulverweigerung kommt es 
häufig, weil der Einstieg mißglückt." Robischon leitet eine 
staatliche Grundschule in Bad Krozingen bei Freiburg.

"Kaze" hat die Erstkläßlerin Julia geschrieben. Nicht im Traum 
würde Rolf Robischon einfallen, das Wort als Fehler 
anzustreichen, dem Kind gar zu predigen, wie es richtig 
geschrieben wird. Schließlich sieht er seine Aufgabe als Lehrer 
nicht im Aufspüren von Defekten, Lernen nicht als 
"Fehlervermeidungstraining", Unterricht nicht als 
"Reperaturmaßnahme". Ein Kind ist für ihn ein Mensch von 
Anfang an, nicht einer, aus dem noch etwas werden soll. "Ich 
kann ihn sich entfalten lassen, aber nicht einen anderen aus ihm 
machen." Immerhin hat Julia gerade etwas Wichtiges entdeckt: 
daß es außer der gesprochenen Sprache, dem Anschauen oder 
Berühren auch noch Zeichen, die Schrift, gibt, um sich mit 
anderen auszutauschen. Sie hat "Kaze" geschrieben, wie sie es 
sprechen gelernt hat, ganz selbständig.

Statt als Kommunikationsmittel gilt die Schrift in den 
Bildungsplänen freilich als "Kulturtechnik". Damit wird sie laut 
Robischon zum "Meß- und Kontrollinstrument". Mit seinen 
Vorstellungen von dem, was Lernen ist, hat das nicht mehr viel 
zu tun. Wo Noten als Druckmittel im Vordergrund stehen, 
lernten Kinder nicht mehr, um sich Wissen anzueignen, sondern 
um der Noten willen. Bestrafen oder Loben seien da nur zwei 
Seiten einer Medaille: Konditionierungs- und 
Manipulationsversuche mit der Absicht, ein Kind nach dem 
eigenen Bild (oder dem der Kultusbürokratie) zu formen. Da 
mag das "Unterrichts-Entertainment" noch so gelungen sein.

Robischons Menschenbild ist ein anderes. "Eingriffe verstören, 
hinterlassen Verletzungen", sagt er. Das Wort Erziehung möchte 
er lieber durch "Entwicklung" ersetzt sehen. Denn er vertraut auf 
die eigenen Impulse seiner Schülerinnen und Schüler und 
akzeptiert notfalls, daß einer Papierflieher macht aus den 
Arbeitsblättern, die er austeilt. Denn "alles, was sie damit tun, ist 
richtig".

"Lernen ist wie Atmen" heißt sein Credo (so auch der Titel 
seines im AOL-Verlag erschienenen Buches). "Ein Kind streckt 
seine Fühler aus, spinnt Fäden, stellt Beziehungen her 
zwischen seinem Gehirn und dem, was es wahrnimmt." Lernen 
ist für ihn dagegen nicht von außen zugestopft werden mit 
präparierten Lerninhalten, so wie Computer programmiert 
werden. Was er gerne auch als "Kübeltheorie" beschreibt. In 
puncto Lernen gibt es für Robischon nur ein klares Entweder-
Oder. Auf Kompromisse - etwa den, daß lernen eine Synthese 
aus Angebot (von außen) und Nachfrage (von innen) sein 
könnte - mag er sich nicht einlassen. "Soweit bin ich noch nicht", 
bekennt der 56jährige Pädagoge aus Leidenschaft. "Ich traue 
den Kindern zu, daß sie die Verantwortung für das, was sie tun, 
selber übernehmen."

Das hat Konsequenzen für die Lehrerrolle, die sich bei ihm 
darauf beschränkt, Lerngelegenheiten bereitzustellen. "Die 
Kinder erfinden dann schon, was man daraus machen kann." 
Und es hat Konsequenzen für seinen Unterricht: Weder gibt es 
Hausaufgaben noch feste Sitzodnungen noch stur 
einzuhaltende Anfangszeiten. "Bei mir muß kein Kind Angst 
haben, zu spät zu kommen." Und wenn eines feststellt, daß es 
sich geirrt hat, oder nachfragt, weil es mit einer Arbeit nicht 
weiterkommt, dann "verweise ich auf ein anderes Kind, und sie 
reden darüber. Denn die Kinder sind selbst Experten in dem, 
was sie tun." Es ist ihm "unheimlich wichtig, daß sie sprechen 
und einander zuhören." Im weitesten Sinn versteht er seine 
Arbeit in der Schule deshalb auch als einen Beitrag zur 
Friedenserziehung. Als "unglaublich humanen Pädagogen" hat 
ihn sein Kollege Waldschütz erlebt. "Wenn ein Kind ein anderes 
angreift, tröstet er den Angreifer. Denn dieses Kind sieht er aus 
dem Gleichgewicht geraten." Sehr beeindruckt ist er von 
Robischons pädagogischem Konzept. "Aber es ist nicht auf  
jeden übertragbar. In seiner Person ist es stimmig."

Überfordert fühlt sich Robischon von seiner "offenen Schule" 
dennoch nicht. "Dann würde ich aufhören." Unter Druck gesetzt 
sieht er sich vielmehr durch "die Einengungen der Bürokratie". 
Wer seinen Unterricht besuchen will, muß in der Tat hohe 
Hürden überwinden: über das staatliche Schulamt einen Antrag 
stellen an das Oberschulamt; Tag; Umfang und Gründe für den 
Schulbesuch genau benennen und danach auf die schriftliche 
Genehmigung warten - sofern sie überhaupt erteilt wird. Die 
Abwehr der zuständigen Schulrätin ist deutlich spürbar. Von 
offener Schule keine Spur. Da soll offenbar ein ungewöhnliches 
pädagogisches Konzept unter dem Deckel der Zensur gehalten 
werden. Die baden-württembergische Kultusbürokratie liefert 
damit in flagranti den Beweis dafür, wie unerläßlich Pionier-
Pädagogen in einer versteinerten Bildungslandschaft sind. Auch 
wenn ihre Thesen allzu radikal, ihr Menschenbild allzu 
idealistisch erscheinen. Auch wenn sie bei Kollegen und Eltern 
umstritten sind.

"Man kann nicht alles dem Kind überlassen", davon ist 
Edeltraud Zeller überzeugt. Vieles an Rolf Robischons 
Unterricht findet sie "unrealistisch" und allenfalls in kleinen 
Klassen wie der ihres Sohnes Andreas mit 15 Schülern zu 
verwirklichen. Ihren Sohn drängt sie Hausaufgaben zu machen, 
auch wenn er nie welche aufhat. "Ich bin der Überzeugung, daß 
es ohne das nichts wird." Sie hat oft das Gefühl, daß es in 
Robischons Unterricht so turbulent zugeht, daß die Kinder gar 
nicht zum Arbeiten kommen. Doch sagt auch sie, daß sie die 
Klasse auch schon konzentriert hat arbeiten sehen, ohne daß 
irgend jemand sie dazu aufgefordert hatte. Und die Angst, sie 
könnten mit Blick auf weiterführende Schulen nicht genug 
lernen, ist durch ihre eigene Tochter widerlegt worden. Sie war 
ebenfalls Robischons Schülerin und wurde mit einer 
Empfehlung fürs Gymnasium aus der Grundschule entlassen. 
Aber sie sei auch von Anfang an "unheimlich neugierig und 
lernbegierig" gewesen. Andere dagegen "brauchen manchmal 
einen Schubser".

Rolf Robischon läßt sich von kritischen Stimmen nicht beirren. 
"Ich kann nicht mehr zurück", sagt er. Und wenn manche über 
das vermeintliche "Chaos" in seinem Unterricht stöhnen und 
sich an einen Ameisenhaufen erinnert fühlen, bleibt er gelassen. 
"Wer selbst keine Ameise ist, kann die Ordnung darin nicht 
erkennen und wünscht sich den Gänsemarsch."

Anita Rüffer

 


zurück zur normalen Ansicht