Kommentar zur Verfassungsbeschwerde der Familienpartei Deutschlands "Wahlrecht ab Geburt"

Acht Jahre nach der KRÄTZÄ-Verfassungsbeschwerde zum Thema Kinderwahlrecht liegt jetzt erneut ein ähnlicher Text beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Diesmal sind es nicht zwei Jugendliche im Alter von 13 und 16 Jahren sondern gleich "acht Minderjährige aus vier Familien". Der Schriftsatz stammt wie schon 1995 aus der Feder des Münchner Rechtsanwaltes Peter Merk. Die Forderung ist praktisch dieselbe wie damals: Die Wahlaltersgrenze, die lt. Grundgesetzartikel 38(2) auf 18 Jahre festgesetzt ist, soll fallen. Sie verstoße nämlich gegen das Grundgesetz: konkret gegen Art. 1(1) (Würde des Menschen), Art. 3(1) (Gleichheitsgrundsatz) und Art. 20(2) (Demokratieprinzip). Damals befaßte sich das Hohe Gericht nicht mit der Beschwerde, da sie nur innerhalb einer Frist von 1 Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes (in diesem Fall des Grundgesetzes) möglich gewesen sei. KRÄTZÄ protestierte energisch, schließlich waren die jungen Beschwerdeführer damals noch gar nicht geboren. Aber höchstrichterliche Urteile sind eben unanfechtbar - deshalb versuchten wir es anschließend auf mehreren anderen Wegen. So liegt derzeit eine Petition der Kampagne Ich-will-wählen beim Bundestag.

Nun kommt die Familienpartei Deutschland und macht den selben Schritt noch einmal.

Warum? Was ist neu?

Auffällig ist die diesmal gänzlich anders gelagerte Motivation der Protagonisten. Im Mittelpunkt steht die ökonomische Situation von Familien. In der Begründung geht es um die ökonomische Belastung der "Dritten Generation" - der Kinder. Diese zeige sich bei der "steuerlichen Diskriminierung der Familien gegenüber den Ehepaaren ebenso, wie bei der ausufernden Staatsverschuldung".

Peter Merk verweist seit langem als Politologe auf Kinder als vernachlässigte Generation, die sich im sogenannten Generationenvertrag praktisch nicht wiederfindet. Einen Beitrag zur Überwindung dieses Problems sieht er im Wahlrecht. Wenn Eltern zusätzlich die Stimmen ihrer Kinder hätten, könnte den Alten Paroli geboten werden im Kampf um gerechte Renten und Staatsfinanzen und um eine angemessene staatliche Unterstützung von Familien mit Kindern.

Diese Zusammenhänge bestehen unbestritten. Das Elternwahlrecht, das die Familienpartei unter der Überschrift "Wahlrecht ab Geburt" hier verkauft, kann dennoch Betrug genannt werden - denn mit Kindern hat es nur wenig zu tun. Kinder werden hier als reiner Kostenfaktor gehandelt. Als Machtfaktor im Streit um Steuergelder und Sozialleistungen.

Kinder sind jedoch viel mehr. Kinder leben bereits jetzt, im Hier und Heute. Sie müssen viel erdulden; elterliche Vorschriften und unsinnige schulische Anforderungen lasten auf ihnen. An diesen Mißständen wird sich durch das geforderte Elternwahlrecht nicht viel ändern. Die Meinungsunterschiede zwischen Kindern und Eltern, die legendäre Unzufriedenheit mit dem Schülerdasein werden duch den neuen Vorschlag nicht berührt. Im Gegenteil: Kinder bekommen durch die geplante Neuregelung erst recht bescheinigt: Auf Deine Meinung kommt es nicht an! Du bist nicht befugt, zu entscheiden. Das müssen schon wir Eltern für Dich tun. - Und wie die im Zweifelsfall entscheiden, ist klar. Sie werden sich mit ihrer neudazugewonnen Wahlstimme wohl kaum gegen ihre eigenen Interessen richten. Wer schneidet sich schon freiwillig ins eigene Fleisch?!

Dabei kommt es aber genau darauf an: Kinder müssen mit allen Bedürfnissen ernst genommen werden. Das Prinzip der Gleichberechtigung - eine Errungenschaft aus Jahrtausenden Menschheitsgeschichte - muß endlich auch zwischen den Generationen, zwischen Erwachsenen und Kindern gelten. Solange Kinder als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, die tun müssen, was man ihnen sagt, und warten bis sie gnädigerweise gefragt werden, solange werden Kreativität, Selbstbewußtsein und damit Freude und Leistungsfähigkeit nachhaltig behindert, manchmal fast zerstört. Von Generation zu Generation wird diese Haltung weitergegeben. - Wohlgemerkt: Wir wollen weder, daß "Kinder an die Macht" kommen, noch daß Eltern alles hinnehmen sollen, was Kinder wünschen. Das Wort Gleichberechtigung erlaubt keine Benachteiligung - auch nicht der Eltern.

Wird die neue Verfassungsbeschwerde erfolgreich sein?

Peter Merk argumentiert auf insgesamt 29 Seiten. Die o.g. Regelung, derzufolgen Gesetze nur binnen Jahresfrist angefochten werden können, versucht er zu umgehen, indem er die "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" eines noch nicht einjährigen Beschwerdeführers beantragt - wegen unverschuldeter Fristversäumnis. Wenn das Gericht diesem Gedanken folgt, müßte es auf die nachfolgende Argumentation eingehen, wonach die Altersgrenze gegen demokratische Grundprinzipien verstößt.

Leider konzentriert sich der übrige Beschwerdetext voll und ganz auf die Frage der Stellvertretung durch die Eltern: "Die Ausübung eines Grundrechts ist nicht identisch mit dem Grundrecht selbst". Seitenlang argumentiert Peter Merk gegen das Prinzip der Höchstpersönlichkeit, das dem Stellvertreterwahlrecht natürlich im Weg ist. Er behauptet, daß angeblich bereits jetzt die "persönliche Ausübung [...] gesetzlich eingeschränkt wird bei der Ausübung des Wahlrechts durch Behinderte bzw. Analphabeten und bei der Briefwahl". Dabei handelt es sich in diesen Fällen nur um die Möglichkeit, Hilfspersonen hinzuzuziehen, die den Wählerwillen bei Strafandrohung nicht verfälschen dürfen. Zum Thema Urteils- bzw. Einsichtsfähigkeit schreibt Peter Merk: "Die Minderjährigen werden als Gruppe mit einem "Argument" vom Grundrecht der aktiven Wahl ausgeschlossen, dessen prinzipielle rechtliche Unzulässigkeit gleichzeitig allgemein anerkannt wird." Damit will er den Unter18jährigen das Wahlrecht erstreiten. Fast im selben Atemzug schlägt er aber eine Bresche für das Elternwahlrecht, und begründet es mit Art. 6 GG, wonach Eltern "Träger der Fürsorgepflicht gegenüber ihren Kindern sind. [...] Der Grundgesetzgeber statuiert [...] ein grundsätzliches ,normatives Vertrauen’ in die Kompetenz und die Bereitschaft der Eltern, die Interessen ihrer Kinder hinsichtlich sämtlicher Rechtsbereiche zu erkennen und qualifiziert zu vertreten."

Wir sind eher der Meinung, daß man über Artikel 6 und die dortigen Elternrechte nachdenken soll. Sie sind zwar als Schutzrechte gegenüber staatlichen Eingriffen gedacht sind, werden aber allzuoft von Eltern mißbraucht als Vorrecht gegenüber Kinderinteressen.

Trotz allem kann man der Familienpartei und Peter Merk Erfolg wünschen, denn ihr Vorstoß zwingt die Menschen, über das Kinderwahlrecht nachzudenken. Wir können nur hoffen, daß die Leute auch die KRÄTZÄ-Argumente beachten. Wie eine Regelung am Ende aussieht, läßt sich nach dem Beschluß des Verfassungsgerichts konkretisieren.

Oktober 2003