Innere Widersprüche im Grundgesetz ?

Das Wahlrecht ergibt sich in Deutschland aus Artikel 20 des Grundgesetzes (GG):
Art.20 (1) Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (…) ausgeübt.
Der Artikel 20 ist eine "Staatsfundamentalnorm". Das ergibt sich aus Art. 79(3):
Art. 79 (3) Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.
Demgegenüber ist der Art. 38(2) keine Staatsfundamentalnorm:
Art. 38 (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.

Das politische Grundrecht nach Artikel 20 wird unseren Beschwerdeführer durch Art. 38(2) vorenthalten.

Das von uns beanstandete Wahlalter wirft verfassungsrechtlich sehr interessante und bisher noch nie entschiedene Fragen auf: Ist es möglich, ein Rangverhältnis zwischen verschiedenen Verfassungsnormen herzustellen? Wie steht es um den Begriff des verfassungswidrigen Verfassungsgesetzes? Kann das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung im Falle eines inneren Widerspruchs, der die Fundamente der Verfassung beeinträchtigt, die schwächere Norm - die nicht über Art. 79(3) mit dem "Ewigkeitswert" versehen ist - entfernen?

Dieses Thema wird in verschiedenen Kommentaren zum Grundgesetz aufgegriffen. Im führenden Kommentar "Maunz-Dürig" schreibt der bisherige Vorsitzende des Bundesverfassungsgerichts und jetzige Präsident der Bundesrepublik Roman Herzog zum Art. 20 unter Randnummer 25: "Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß fast alle Artikel des GG in diesem Sinn letztlich nur "Ausführungsbestimmungen" zu Art. 20 (und selbstverständlich auch zu Art. 1) sind…"

Die Frage besteht nun darin, ob sich das Oberste Gericht dazu entschließen kann, über die innere Rangfolge im Grundgesetz einen Beschluß herbeizuführen. Auch hierzu hat sich Roman Herzog als Kommentator geäußert: "Unbestreitbar besitzt der Artikel 20 (2) insofern erhöhte Geltungskraft, als er nach Artikel 79(3) auch durch übereinstimmende Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat weder beseitigt noch geändert werden kann. Ob sich daraus auch eine Höherrangigkeit in dem Sinne begründen läßt, daß beim Konflikt zwischen Art. 20 und einer anderen konkreten Verfassungsbestimmung diese von vornherein nichtig wäre, gehört aber jedenfalls hinsichtlich jener Verfassungsartikel, die schon Bestandteil der Urverfassung des GG waren, zu den umstrittensten Fragen der modernen deutschen Staatsrechtslehre."

Im Zweifelsfall muß man sich auf das übergeordnete Prinzip berufen und das ist in unserem Fall die in Gesetzesform geronnene philosophische Idee der Demokratie. Wenn das Bundesverfassungsgericht seiner Aufgabe als Hüter des Grundgesetzes gerecht werden will, muß es, um eine Verletzung des Art. 20 im Kern zu vermeiden, den Art. 38(2) ändern.

Wir versprechen uns - aus verschiedenen Gründen, die hier nicht wiederholt werden sollen - viel von der Beteiligung auch der jungen Menschen an Wahlen. Deshalb bemühen wir uns, auch diese juristischen Zusammenhänge klar heraus zustellen, damit nicht zuletzt dem Bundesverfassungsgericht ein öffentliches Interesse gegenüber steht, über das es nicht so leicht hinweggehen kann.

12. April 1995

1) Herzog, R. in Maunz-Dürig, Komm. z. GG. Art. 20 Rdnr. 25, München 1991
2) ebenda, Rdnr. 22

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