Pressemitteilung zur Ablehnung der Verfassungsbeschwerde

29. Januar 1996
Kinderwahlrecht:
Bundesverfassungsgericht lehnt Entscheidung ab
Begründung des Gerichts juristisch bedenklich
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde zweier Schüler wegen Vorenthaltung des Wahlrechts nicht zur Verhandlung angenommen (2 BvR 1917/95).

Der in der Klageschrift erhobene Vorwurf eines inneren Widerspruchs in der Verfassung wurde nicht zur Verhandlung zugelassen, da die Frist für eine solche Beschwerde abgelaufen sei. Im § 93(3) Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG), mit dem das Gericht die Nichtannahme begründet, heißt es: "Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz oder gegen einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht (…)" kann sie "nur binnen eines Jahres (…) erhoben werden."

Diese Argumentation hält der bevollmächtigte Anwalt Dr. Peter Merk für juristisch nicht tragfähig, da die Beschwerde weder ein Gesetz noch einen ‘sonstigen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht’ angreife, sondern vielmehr die Verfassung selbst. Der in § 93 (3) BVerfGG verwendete Begriff "Gesetz" könne nicht so verstanden werden, daß er auch das Grundgesetz - also die Verfassung - umfaßt, weil das Grundgesetz die Grundlage der Gesetze erschaffe, d.h. Bedingung aller Gesetze sei. Auch die im selben Paragraphen aufgeführten Hoheitsakte setzten eine staatliche Organisation voraus, die wiederum eine Verfassung zur Voraussetzung haben müsse. Folglich könne das Grundgesetz nicht selbst ein Hoheitsakt sein.

Im Übrigen begründet das Gericht seine Ablehnung mit einem Verfassungsgerichtsurteil, in dem ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes nicht zugelassen wurde. Das habe aber nach Ansicht Merks mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun, da "gegen eine Norm des Grundgesetzes selbst in ihrem ursprünglichen Bestand" geklagt wurde.

Des weiteren vertrete das Gericht einen Standpunkt, der eine juristische Änderung von Normen des Grundgesetzes durch Verfassungsbeschwerden von vornherein ausschließt. Es könne hier die Frage aufgeworfen werden, ob das Gericht nicht durch die Verweigerung der Verhandlung gegen Art. 19 Abs.4 des Grundgesetzes verstoße ("Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen."). Zweifelsfrei seien die Beschwerdeführer durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt, indem sie durch eine Norm des Grundgesetzes von der Ausübung eines Grundrechts, nämlich des politischen Grundrechts der Wahl vollständig ausgeschlossen würden, so der Anwalt.

Die hinter den Beschwerdeführern stehende Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. zeigte sich ebenfalls enttäuscht darüber, daß das Gericht in Karlsruhe einer verfassungsrechtlichen Diskussion um die Altersgrenze beim Wahlrecht aus dem Weg gehe. Der Beschwerdeführer Benjamin Kiesewetter (16): "Die Entscheidung bedeutet ja, daß wir die Klage bereits 1951 hätten einreichen müssen."

Auf der anderen Seite ergebe sich nach Meinung der Kinderrechtsgruppe, daß die Auseinandersetzung um das Wahlrecht ohne Altersbegrenzung fortgesetzt werden müsse, da der Forderung und Argumentation der Kinderrechtler vom Gericht inhaltlich nichts entgegengesetzt worden sei.

So ist von den KinderRÄchTsZÄnkern bereits eine ähnlich lautende Beschwerde gegen die erst 4 Monate alte Berliner Verfassung geplant. Auch Klagen beim Europäischen Gerichtshof und der Menschenrechtskommission behalten sie sich vor. "Außerdem werden wir die politischen Argumente von nun an verstärkt an Parteien und Abgeordnete herantragen", so der Beschwerdeführer Rainer Kintzel (13).

Hauptanliegen der Kinderrechtsgruppe sind die menschenrechtliche Gleichstellung von Kindern und die Wahrnehmung ihrer Interessen, da sie in der Schule, in der Familie und in anderen gesellschaftlichen Bereichen in vielen Fällen diskriminiert und ihrer Grundrechte beraubt würden. Die angestrebte Wahlrechtsänderung werde zum Erreichen dieser Ziele beitragen. Insbesondere werde dann auch Zukunftsfragen wie Umweltschutz und Staatsverschuldung mehr Bedeutung beigemessen werden.

Benjamin Kiesewetter und Rainer Kintzel hatten im August vergangenen Jahres eine Verfassungsbeschwerde gegen Artikel 38 (2) GG, in dem das Wahlalter festgelegt ist, eingereicht. Dieser Artikel stehe im Widerspruch zum Demokratieprinzip "Ein Mensch - Eine Stimme", das in Artikel 20 (2) "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (...)" als Staatsfundamentalnorm festgeschrieben sei.

Die Aktion hatte in der folgenden Zeit eine noch andauernde öffentliche Diskussion in den Medien hervorgerufen, da sie auch von zahlreichen Prominenten aus Politik, Wissenschaft und Kultur unterstützt wurde. Unterstützung von dem Bürgerrechtler Jens Reich, mehreren Bundestagsmitgliedern wie z.B. Thomas Krüger und Gregor Gysi, dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann, dem GRIPS-Theaterleiter Volker Ludwig, dem Deutschen Kinderhilfswerk und den Liedermachern Bettina Wegner und Gerhard Schöne hatten erwirkt, daß sich auch politische Entscheidungsträger wie Rudolf Scharping und die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu dem Thema öffentlich äußern mußten.

Weitere Informationen erfragen Sie bitte bei uns. Wir faxen Ihnen das Urteil, die Unterstützerliste, Presseveröffentlichungen u.a. gern zu. Rechtsanwalt Dr. Peter Merk hat die Telefonnummer 089 / 264 555.

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