Deutscher Bundestag
14. Wahlperiode |
- 221 -
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Drucksache
14/1560 |
Anlage 83
Beschluß
In der Wahlanfechtungssache
Az: WP 95/98
1. des Herrn Martin Wilke
2. Paula Sell, gesetzlich vertreten
durch Dr. Ursula Sell
3. Robert Rostoski, gesetzlich
vertreten durch Petra und Dietrich Rostoski
alle wohnhaft: Michaelkirchstraße 30, 10179 Berlin
Bevollmächtigter
Rechtsanwalt Dr. IC Peter Merk
Marienplatz 17, 80331 München
gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag
vom
27. September 1998
hat der Deutsche Bundestag in seiner Sitzung
am 30. September 99 beschlossen:
Der Wahleinspruch wird für den
Einspruchsführer zu l. als unbegründet sowie für die Einspruchsführer
zu 2. und 3. als unzulässig zurückgewiesen
Tatbestand
1. Mit Schreiben vom 24. November
1998, welches am 26. November 1998 beim Bundestag eingegangen
ist, haben die Einspruchsführer über ihren Bevollmächtigten
gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag
am 27. September 1998 Einspruch eingelegt. Sie wenden sich
gegen die Festsetzung des Mindestalters von achtzehn Jahren
zur Ausübung des aktiven Wahlrechts.
Der bevollmächtigte Rechtsanwalt
hat für die Einspruchsführerin zu 2. eine Vollmacht mit folgendem
Wortlaut vorgelegt:
"Vollmacht
Paula Sell
gesetzlich vertreten durch Frau
Dr. Ursula Sell
erteilt hiermit Herrn RA Dr.
IC Peter Merk, Marienplatz 17, 80331 München
Vollmacht
zur Durchführung eines Wahlprüfungsverfahrens
gem. Art. 41 GG gegen das Ergebnis der Bundestagswahl vom
27. September 98.
Die Vollmacht umfasst die Einlegung
des Einspruches gem. § 2 Wahlprüfungsgesetz und die Erhebung
der Beschwerde gem. § 48 BverfGG."
Der Wortlaut der Vollmacht für
den Einspruchsführer zu 3. ist mit dem Wortlaut der Vollmacht
der Einspruchsführerin zu 2. identisch.
Der Einspruchsführer zu l. ist
am 25. März 1980 geboren und hatte somit am Tage der Bundestagswahl
das achtzehnte Lebensjahr vollendet. Dementsprechend war er
im Bezirk Prenzlauer Berg von Berlin im Stimmbezirk 012 unter
der Nr. 0771 im Wählerverzeichnis eingetragen.
Die Einspruchsführerin zu 2. ist am 30. Januar 1985 und der
Einspruchsführer zu 3. am 21. Mai 1981 geboren. Beide hatten
am 27. September 1998, dem Tag der Bundestagswahl, das achtzehnte
Lebensjahr noch nicht vollendet.
Der Einspruchsführer zu 3. hat vor der Bundestagswahl beim
Verwaltungsgericht (VG) Berlin seine Eintragung in das Wählerverzeichnis
beantragt. Das VG Berlin hat den Antrag mangels Zulässigkeit
abgelehnt und auf das Wahlprüfungsverfahren verwiesen.
Die Einspruchsführer beantragen, die Bundestagswahl wegen
verfassungswidriger Beschränkung des Kreises der aktiv Wahlberechtigten
für ungültig zu erklären und die sich daraus ergebenden Folgerungen
festzustellen.
Zur Begründung ihres Einspruchs tragen sie vor, Artikel 38
Abs. 2 l. Alternative des Grundgesetzes (GG) sei "ausnahmslos
wortgetreu angewandt" worden. Diese Verfassungsvorschrift
verweigere aber aufgrund einer "Altersdiskriminierung"
einem erheblichen Teil des Staatsvolkes gemäß Artikel 20 Abs.
2 GG das aktive Wahlrecht. Dies stelle einen Verstoß gegen
den Wahlgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl dar, weshalb
die Bundestagswahl ungültig sei. Der Ausschluß vom aktiven
Wahlrecht, das als politisches Grundrecht anerkannt sei, verweigere
den betroffenen Bürgern die ihnen zustehende Subjektstellung,
indem sie zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt würden.
Die Regelung in Artikel 38 Abs. 2 l. Alternative GG verstoße
deshalb gegen die Staatsfundamentalnormen der Artikel 20 und
1 Abs. 1 GG.
Zur Untermauerung dieser Ansicht
vergleichen die Einspruchsführer die herrschende Meinung der
Rechtswissenschaft mit der ihrer Meinung nach existierenden
politischen Praxis. Nach herrschender Meinung der Rechtswissenschaft
werde der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl durch Artikel
38 Abs. 2 l. Alternative GG nicht verletzt, weil sich die
Altersgrenze aus dem Wesen des aktiven Wahlrechts ergäbe und
historisch erhärtet sei. In der politischen Praxis würden
jedoch seit Jahrzehnten Senioreninteressen priorisiert (beispielhaft
wird auf die Rentenpolitik und den Generationenvertrag verwiesen),
was sich auch an der steigenden Kinderarmut bei wachsendem
Altersreichtum zeige. Sozialpolitische Entscheidungen würden
unter Berücksichtigung des potentiellen Wahlverhaltens der
Senioren getroffen, während die "Unter-18-jährigen"
keine wahlpolitische Reaktion zeigen könnten und deshalb von
vornherein bei politischen Entscheidungen ausgegrenzt würden.
Eine Ursache für diese nach Ansicht
der Einspruchsführer herrschende politische Praxis vermuten
diese in dem 1sich möglicherweise aus der unterschiedlichen
Definition des Begriffes Volk im Sinne des Artikels 20 Abs.
2 Satz 1 und 2 GG ergebenden "Repräsentationsdefizit"
und in der Regelung des Artikels 38 Abs. 2 l. Alternative
GG, die dann verfassungswidrig sei, wenn sie im Widerspruch
zu den Staatsfundamentalnormen der Artikel 20 und 1 GG stehe.
Wenn ein Staat seinen Staatsbürgern ein Grundrecht, hier das
aktive Wahlrecht als politisches Grundrecht, vorenthalte,
stelle sich die Frage nach der Verletzung der Menschenwürde.
Da Artikel 38 Abs. 2 l. Alternative GG "die Jungen"
(0 bis 18jährige) durch den Ausschluß vom aktiven Wahlrecht
zum Objekt staatlichen Handelns herabwürdige, sei diese Regelung
mit Artikel l Abs. 1 GG unvereinbar. Ebenso verbiete es der
Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, bestimmte Bevölkerungsgruppen
aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von
der Wahl auszuschließen. Nach dem herrschenden juristischen
Verständnis von der Bedeutung des Grundsatzes der Allgemeinheit
der Wahl gebe es keinen Rechtfertigungsgrund, die"Jungen"
vom aktiven Wahlrecht auszuschließen.
Unter Rückgriff auf eine Literaturmeinung
wird vorgetragen, "ein großer Schritt in Richtung Familien
und Kindergerechtigkeit in unserer Gesellschaft" wäre
getan, wenn eine entsprechende Änderung von Artikel 38 Abs.
2 erster Halbsatz GG mit den erforderlichen Mehrheiten beschlossen
würde.
Mit Schreiben vom 16. Dezember
1998 hat der bevollmächtigte Rechtsanwalt der Einspruchsführer
vorgetragen, daß die gesetzliche Vertreterin der Einspruchsführerin
zu 2. sich das Anliegen selbst zu eigen gemacht habe, was
durch ihre Unterschrift als Wahlberechtigte auf der Vollmacht
zum Ausdruck komme.
Wegen der Einzelheiten wird auf
den Akteninhalt verwiesen.
2. Der Wahlprüfungsausschuß hat
nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß §
6 Abs. la des Wahlprüfungsgesetzes (WPrüfG) von der Anberaumung
einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen.
Entscheidungsgründe
Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim
Deutschen Bundestag eingegangen. Er ist bezüglich des Begehrens
des Einspruchsführers zu 1. zulässig. Der Einspruch ist jedoch
unzulässig, soweit die Einspruchsführer zu 2. und 3. die Bundestagswahl
anfechten wollen.
Eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des
Einspruchs ist gemäß § 2 Abs. 2 WPrüfG, daß er von einem Wahlberechtigten
eingelegt werden muß. Wahlberechtigt ist nach dem ausdrücklichen
Wortlaut des Artikels 38 Abs. 2 GG, wer das achtzehnte Lebensjahr
vollendet hat. Da die Einspruchsführer zu 2. und 3. zum Zeitpunkt
der Bundestagswahl am 27. September 199S das achtzehnte Lebensjahr
noch nicht vollendet hatten, waren sie für die Bundestagswahl
nicht wahlberechtigt und somit auch nicht zur Einlegung eines
Einspruchs gegen die Bundestagswahl berechtigt.
Durch die Vollmachten der gesetzlichen Vertreter
der Einspruchsführer zu 2. und 3. wurde der bevollmächtigte
Rechtsanwalt nicht beauftragt, im eigenen Namen der jeweiligen
gesetzlichen Vertreter den Einspruch einzulegen, sondern im
Namen der Einspruchsführer zu 2. und 3., die wiederum von
ihren gesetzlichen Vertretern vertreten werden. Durch den
Wortlaut der Vollmachten der gesetzlichen Vertreter der Einspruchsführer
zu 2. und 3. haben diese sich das Anliegen nicht selbst zu
eigen gemacht, wie der bevollmächtigte Rechtsanwalt behauptet.
Die Einspruchsführer zu 2. und 3. haben den Rechtsanwalt zur
Durchführung des Wahlprüfungsverfahrens bevollmächtigt und
werden hierbei aufgrund ihrer Minderjährigkeit von ihren gesetzlichen
Vertretern vertreten.
Der Einspruch ist in bezug auf das Vorbringen
des Einspruchsführers zu 1. zulässig, jedoch offensichtlich
unbegründet, weil kein Wahlfehler festgestellt werden konnte.
Artikel 38 Abs. 2 erster Halbsatz GG und §
12 Abs. 1 Nr. 1 Bundeswahlgesetz (BWG) legen fest, daß derjenige
wahlberechtigt ist, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet
hat. Der Einspruchsführer zu 1. war zum Zeitpunkt der Bundestagswahl
achtzehn Jahre alt und deshalb gemäß § 2 Abs. 2 WPrüfG zur
Einlegung eines Einspruchs berechtigt. Die Rechtsansichten
des Einspruchsführers zu 1. sind aber nicht geeignet, den
Einspruch erfolgreich zu begründen. Das Mindestwahlalter ist
in der genannten Norm des Grundgesetzes ausdrücklich geregelt
und somit geltendes Verfassungsrecht. Die Herabsetzung oder
gar Abschaffung des Mindestwahlalters, wie vom Einspruchsführer
zu 1. gefordert, kann nur im Rahmen einer Änderung der Verfassung
erfolgen, wobei die vom Einspruchsführer zu 1. vorgetragenen
rechtspolitischen Erwägungen eingebracht werden könnten. Zu
einer Grundgesetzänderung ist gemäß Artikel 79 Abs. 2 GG die
Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages
und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates erforderlich.
Eine Änderung dieser Rechtslage kann auch keineswegs im Wege
der Rechtsauslegung erfolgen. Auch im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens
können derartige rechtspolitische Ansichten, selbst wenn sie
auf die Behauptung gestützt werden, es läge verfassungswidriges
Verfassungsrecht vor, nicht zu einer Änderung des Grundgesetzes
führen.
Der Einspruch ist deshalb teilweise gemäß
§ 2 Abs. 2 WPrüfG als unzulässig und teilweise gemäß § 6 Abs.
la Nr. 3 WPrüfG als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Beschluß kann gemäß § 48 des
Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. August 1993), der als Anlage beigeßigt
ist, unter den dort genannten Voraussetzungen Beschwerde beim
Bundesverfassungsgericht erhoben werden. Sie muß binnen einer
Frist von zwei Monaten seit der Beschlußfassung des Deutschen
Bundestages beim Bundesverfassungsgericht eingegangen sein.