Antwort der PDS im Wortlaut
von Dr. Gregor Gysi


Beantwortung der Wahlprüfsteine von Dr. Gregor Gysi

 

1. Wahlalter

1b) bei Abgeordnetenhauswahlen:

Senkung des Wahlalters, und zwar auf 16 Jahre

1b) bei Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung:

Senkung des Wahlalters, und zwar auf 16 Jahre

Begründung:

Kinder und Jugendliche sind Träger von Rechten. Sie sollen mitentscheiden, wenn es um ihr unmittelbares Lebensumfeld, um ihren Bezirk und um ihre Stadt geht. Deshalb sind wir unbedingt für eine Herabsetzung des Wahlalters. In unserem Wahlprogramm schlagen wir die Altersgrenze von 16 Jahren vor. Das wäre auf jeden Fall eine Verbesserung der Rechtsstellung junger Menschen. Sie entspricht wissenschaftlichen Studien über die Entwicklung der politischen Reife Jugendlicher, obwohl das Alter eines Menschen nur wenig über seine Reife, sein Wissen und seine Erfahrungen und über den Stand seiner Persönlichkeitsentwicklung aussagt. Es gibt in der PDS viele, die für die generelle Abschaffung einer Altersfestlegung für die Wahlberechtigung eintreten, wobei dann Eltern bis zu einem bestimmten Alter ihrer Kinder für diese mitwählen dürfen sollen. Diese Diskussion werden wir weiterführen und wir hoffen, dass sich daran auch viele junge Menschen beteiligen. Wir wollen nicht nur über sie, sondern vor allem mit ihnen sprechen und Politik machen.


2. Schulpflicht

2a) [Abschaffung der Schulpflicht und Wahrung des Rechts des Kindes auf Bildung.]

Begründung:

Christoph Spehr schrieb in einer mit dem Preis der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgezeichneten Arbeit zu dem Titel "Gleicher als Andere" folgenden bemerkenswerten Satz: "Wir sperren unsere Kinder in Räume, die sie nicht verlassen dürfen, wo wir sie dem Kommando von Leuten ausliefern, die sie sich nicht aussuchen und denen sie sich nicht verweigern können. Wir nennen das Schule, und es setzt sich fort in Lehrstellen, Universitäten, Betrieben."

Die Schulpflicht hatte in ihrer Geschichte durchaus eine positive Funktion - zu gewährleisten, dass alle Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, eine Schule besuchen konnten und somit Zugang zu Bildung erhielten. Für die heutige Gesellschaft, in der die Individualität und individuelle Freiheitsrechte einen hohen Stellenwert haben, ist es berechtigt, danach zu fragen, ob eine Schulpflicht und die Art und Weise, wie sie im Berliner Schulgesetz geregelt sind, noch zeitgemäß sind. Allerdings muss man, wenn man die Schulpflicht abschaffen wollte, klären, wie man unter heutigen Bedingungen sichert, dass auch Kinder aus sog. bildungsfernen Milieus die gleichen Bildungschancen erhielten wie andere. Möglich wäre dies z.B. durch die Bindung finanzieller Zuwendungen wie Kindergeld, Bafög u.ä. an den Besuch einer "anerkannten" Bildungseinrichtung. Aber verantwortungslose Eltern könnte es dennoch geben. Da sehe ich noch einen Bedarf, Eltern zu verpflichten, Kindern eine ausreichende Bildung zukommen zu lassen. Zu klären ist aber, was alles zu einem "Recht auf Bildung" gehört. Bisher ist in der Berliner Verfassung unter Grundrechten und Staatszielen im Artikel 20 das Recht auf Bildung formuliert. Dieses müsste im Schulgesetz als individuell einklagbares Recht ausgestaltet und durch eine Pflicht des Staates, bedarfsgerecht Bildungseinrichtungen und Personal zur Verfügung zu stellen, sowie ein Anerkennungsverfahren für Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft ergänzt werden.
Auf jeden Fall könnte ich mir die Umwandlung der Schulpflicht in eine Bildungspflicht vorstellen.


3. Schulverweigerung

3b) [Befreiung von der Schulpflicht dann zu genehmigen, wenn nachgewiesen werden kann, dass auf andere Weise das Recht des Kindes auf Bildung besser gewahrt werden kann.]

Begründung:

Die Frage der Schulverweigerung stellt sich nur, wenn es eine Schulpflicht gibt. Unter Berücksichtigung meiner obigen Antwort halte ich die Antwort b für richtig, weil so eine Lösung gefunden werden kann, die "schulverweigernde" Kinder oder Jugendliche zum Lernen motiviert. Noch sinnvoller wäre es, wenn im Rahmen der schulischen Angebote bereits Alternativen mit anderen Lernformen, z.B. Lernen in einer praktischen Tätigkeit, bestünden, zwischen denen die Kinder und Jugendlichen wählen könnten. Das hieße z.B., dass es in Berlin nicht nur eine Schule nach dem Modell "Stadt als Schule" gäbe, sondern eine Vielzahl davon.


4. Wahlfreiheit innerhalb der Schule

4b) [Reduzierung der Pflicht, Schulfächer besuchen zu müssen.]

Begründung:

Die selbstbestimmte Wahl einer Bildungseinrichtung wird von mir befürwortet. Das schließt allerdings ein, deren Angebot und innere Organisation zu akzeptieren.

Unter bildungsreformerischen Gesichtspunkten besteht ohnehin die Frage, das gegenwärtige Fachunterrichtsprinzip und den Fächerkanon teilweise durch projektorientiertes Lernen zu ersetzen.

Bei einer weitgehenden Wahlfreiheit hinsichtlich der Fächer oder Stoffkomplexe müsste es aber in jedem Fall so etwas wie eine Orientierungsphase geben, die Pflicht ist und die Kindern und Jugendlichen eine kompetente Auswahl ermöglicht. Hinsichtlich notwendiger grundlegender Kenntnisse sollte es allerdings keine Wahl zum Verzicht geben, weil bestimmte - vielleicht nur aus Bequemlichkeit - "gewählte" Defizite im späteren Leben schwer auszugleichen sind.


5. Zensuren, zentrale Abschlussprüfungen

5a) [Abschaffung von Zensuren und jeder anderen nicht vom Schüler angeforderten Bewertung]

Begründung:

Zensuren sind ebenso wie zentralisierte Abschlussprüfungen weder objektiv noch ermöglichen sie wirkliche Leistungsvergleiche. Gerade bei zentralisierten Abschlussprüfungen und Leistungsvergleichen können die konkreten Bedingungen, unter denen gelernt wurde, nur unzureichend berücksichtigt werden. Das Problem ist nur, dass dennoch die Gleichwertigkeit von Abschlüssen zu sichern ist.

Bewertungen müssen einen Zweck haben, nicht Selbstzweck sein. Sinnvoll ist es durchaus, Lernergebnisse und Lernfortschritte zu messen und zu bewerten, um möglicherweise Veränderungen in den nächsten Lernphasen vorzunehmen. Dies schließt ein, dass sich alle Beteiligten über Kriterien, Bewertungsformen und -methoden verständigen.


6. Schuluniformen

Wir sind gegen Schuluniformen! Wir wollen allerdings den faktischen Zwang zur Markenkleidung überwinden.


7. Freie Schulwahl

7a) [Die Entstehung einer vielseitigen Schullandschaft in privater und staatlicher Trägerschaft mit unterschiedlichsten Konzeptionen], aber mit der Maßgabe, dass der Staat die Verantwortung und die Kompetenz hat, die rechtliche, fachliche und finanzielle Rahmenbedingungen zu setzen und gleichberechtigten Zugang zu sichern.

Begründung:

Das Bildungswesen muss, wenn Bildung Allgemeingut und Persönlichkeitsrecht bleiben soll, ein öffentliches und kein privatisiertes sein. D.h., dass beim Staat als Repräsentant der Gesellschaft die Ordnungs- bzw. Regulierungskompetenz für das Bildungswesen liegen muss. Das heißt aber nicht, dass der Staat selbst Träger aller Schulen sein muss.

Es geht um eine vielfältige Schullandschaft im Sinne vielfältiger pädagogischer Konzepte, durch die ein öffentlicher Bildungsauftrag erfüllt wird. Die Schulträgerschaft kann dann zweitrangig sein, wenn alle Schulen über die gleiche bzw. vergleichbare finanzielle, personelle und materielle Ausstattung verfügen, wenn fachliche Qualitätssicherungen gewährleistet sind, und wenn unterschiedliche Schulträgerschaft nicht zu einer Selektion in Schulen für Reiche und Schulen für Arme führt.


8. Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft

8a) [Gleichstellung mit staatlichen Schulen]
8a) [Abschaffung der Wartezeit von drei Jahren] nach erfolgter staatlicher Anerkennung.

Begründung:

Die finanzielle Gleichstellung der Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft folgt aus der Beantwortung der vorangegangenen Frage und zwar dann, wenn sie als Bildungseinrichtung / Schule anerkannt sind. Das schließt aber ein, dass es ein vom Staat zu regelndes Anerkennungsverfahren gibt, nach dem eine Einrichtung eines freien Trägers als Bildungseinrichtung oder Schule erfolgt. Dazu sollte auch gehören, dass der freie Träger nachweist, dass ein wahrnehmbares Interesse des kommunalen Umfeldes für eine entsprechende Schule und eine entsprechende Nachfrage von Eltern sowie Kindern und Jugendlichen existiert.


9. Genehmigung einer Schule nach dem Modell der Sudbury Valley School

9 a) [die Einrichtung einer Sudbury School als staatliche Schule mit Autonomiestatus]
und b) [die Einrichtung einer Sudbury School als Privatschule].

Begründung:

Die Befürwortung ergibt sich aus den vorangegangenen Antworten. Nach geltendem Schulrecht müsste eine solche Schule, wenn sie als staatliche Schule eingerichtet wird, als Modellschule/Schulversuch geführt werden.