Rechte des Staates, Rechte der Eltern, Rechte der Schüler - Im dänischen Schulsystem gibt es mehr Freiheit. Aber für wen?

Benjamin Kiesewetter

Die Gespräche mit den dänischen Schülern, das Kennenlernen der Strukturen der Privatschulen und vor allem auch der Besuch im Unterrichtsministerium haben mich am dänischen Schulsystem zweifeln lassen. Haben die jungen Menschen im Bildungswesen Dänemarks wirklich eine stärkere Rechtsposition als hier in Deutschland?

Die Unterrichtssituation in der Lilleskole unterschied sich nicht sehr von unserer, die Schulmechanismen haben sich durchgesetzt: Schüler meldet sich, Lehrer nimmt ihn ran, Schüler soll in ganzen Sätzen sprechen. Diese pädagogische Atmosphäre, die es z.B. möglich macht, daß Menschen nach Dingen fragen, die sie selber schon wissen (wo kommt so etwas im wirklichen Leben vor?), war hier genau dieselbe.

Für mich war vor allem wichtig, ob es Zwang gibt oder nicht. Die Schüler rückten erst nach eindringlichem Nachfragen mit der Sprache heraus: Nein, eigentlich gäbe es keinen Zwang, aber alle würden alle Fächer besuchen, weil die Eltern es so wollten. Das hat mich eigentlich am meisten erschreckt. Die Eltern zahlen monatliches Schulgeld dafür, daß die Kinder nicht in die Folkeskole gehen, sondern auf eine Privatschule. Weil sie dieses Geld zahlen, haben sie auch höhere Ansprüche an die Schule und die Lernerfolge bei den Kindern. Der Druck, der in Dänemark nicht von der Schule kommt, kommt von den Eltern. Ist das eine Verbesserung für die Schüler?

Ich habe (- soweit ich das einschätzen kann - mit allen anderen Mitfahrern) den Eindruck, daß es den Schülern insgesamt schon besser geht. Vieles ist wohl eine Sache der Stimmung, und die Stimmung in der Lilleskole unterschied sich schon deutlich von dem, was wir aus Deutschland kannten. Selbst die Folkeskole machte einen freundlicheren Eindruck als unsere Schulen. Es ist selbst hier ganz normal, seine Lehrer zu duzen und die Klasse zu wechseln, wenn man mit dem Klassenlehrer nicht klarkommt. Aber es geht auch um grundsätzlichere Dinge.

Ich war also sehr gespannt auf den Besuch in der DAS, einer privaten Schule mit dem Anspruch, eine "freie" Schule zu sein. Alle Schüler, mit denen wir dort gesprochen haben, erklärten, daß sie gerne zur Schule gingen. Und dementsprechend begeistert waren die meisten K.R.Ä.T.Z.Ä.s von der Stimmung und dem Funktionieren der Schule. Nach einigen intensiveren Gesprächen kam allerdings heraus, daß auch hier Lern- und Anwesenheitszwang existierte. Die Schüler verteidigten dies erst, sie meinten, daß sie nur zum Unterricht müßten, weil sie wollten, bis wir uns schließlich darauf verständigten, daß es keinen Grund gibt, anderen Menschen Lerninhalte aufzudrängen, daß man den Zwang also ruhig weglassen könnte. Jedenfalls sah ich auch hier keine richtige Übereinstimmung mit unseren Vorstellungen – angesichts der Tatsache, daß diese beiden grundsätzlichen Zwänge, die wir in Deutschland kritisieren, auch dort das Schulleben bestimmen.

In Deutschland kritisieren wir Schulpflicht als grauen Eintopf mit Eßzwang. Die dänischen Schulen sind nicht so grau wie unsere, manche sind richtig bunt – aber ich möchte auch nicht dazu gezwungen werden, einen leckeren Eintopf zu essen. Ich möchte, daß ich ganz alleine entscheiden darf, ob und was ich esse. Und ob und was ich lerne.

Im Unterrichtsministerium gab es eine interessante Diskussion über die Probleme des dänischen Systems. An mancher Stelle sind wir plötzlich in eine Rolle hineingeraten, in der wir die Freiheit des dänischen Schulsystems kritisieren mußten. Das Beispiel der Scientologyschulen, die in Dänemark zugelassen werden müssen, machte für mich deutlich: Der Staat hat sehr viele Rechte aus der Hand gegeben, so daß er jetzt nicht mehr dagegen vorgehen kann, daß Kinder bei Scientologen lernen müssen, weil ihre Eltern es wollen. Die Verwaltung hat es zu verhindern versucht, das Gericht entschied im Sinne des "freien Schulsystems" für Scientology.

Hier ist etwas falsch gelaufen. Die Eltern haben vom Staat soviele Rechte übertragen bekommen, daß sie ihre Kinder in Scientologyschulen schicken können. Die Rechtslage der Kinder ist im Grunde dieselbe geblieben: Über sie wird entschieden, nicht sie dürfen entscheiden. Auch in Dänemark gibt es kein expliz ites Recht auf Bildung, sondern es gibt das Recht der Eltern staatsunabhängige Schulen zu gründen und ihre Kinder dort unterrichten zu lassen.

Das kann in Einzelfällen schlimmer aussehen als in Deutschland, weil Eltern, die einer bestimmten Ideologie anhängen, ihre Kinder dann dementsprechend unterrichten lassen. Daß die dänischen Schüler meistens freier lernen können als wir, liegt wahrscheinlich nur daran, daß die Menschen in Dänemark wohl insgesamt liberaler eingestellt sind als in Deutschland. Und daß sie deswegen auch mehr freiere Schulen gründen.

Das Schulsystem selbst finde ich nicht viel besser als das deutsche, denn nicht der Status von Kindern und Jugendlichen wurde erhöht, sondern der der Eltern. Wir brauchen aber eine Stärkung der Rechte von Schülern. Das freie Recht auf Bildung muß von jungen Menschen gerade auch gegen die Eltern durchgesetzt werden können. Wenn nicht Elternrechte, sondern Kinderrechte gestärkt würden, wäre es auch unproblematisch, Schulen zu verbieten, die ideologische Weltbilder vermitteln wollen, seien es Scientologyschulen, islamische oder auch christliche.