"Case dropped!"
Allwöchentliches School Meeting aller Summerhillians
Unser Wunsch, am School Meeting* in Summerhill teilzunehmen, wurde zu
Beginn von einem Teilnehmer mit Rederecht eingebracht. Der Antrag wurde
mehrheitlich angenommen. Also durften wir uns leise mit zu den anderen
etwa 55 Summerhillians* auf den Boden der Lounge setzen, die für
viele große Ereignisse in Summerhill benutzt wird. Alle saßen
am Rand, so daß sich mehr oder weniger ein kreisrundes Plenum bildete.
Zwei Jugendliche standen und schienen die Versammlung zu leiten. Mike
bat außerdem noch darum, daß der Mathelehrer Ian, mit dem
wir uns schon vorher unterhalten hatten, einen Antrag auf Erlaubnis zum
Fotografieren stellte. Auch hier hatten nur wenige etwas dagegen und wurden
überstimmt. "Carried" hieß das, wenn ein Antrag vom
Plenum genehmigt wurde.
Die Teilnahme am immer Freitags stattfindenden School Meeting ist freiwillig.
Aber diejenigen, die den Raum verlassen wollen, müssen um Erlaubnis
fragen. Nur einmal wurde so ein Anliegen abgelehnt, weil es bereits kurz
vor Ende des Meetings war.
Ich spürte eine gespannte, konzentrierte Atmosphäre. Ich verzog
mich in eine Ecke und bemühte mich, den straffen Ablauf, in dem sich
einige Vorgänge wie Rituale wiederholten, so wenig wie möglich
zu stören. Ich war Zaungast eines Kultes, keine Frage.
Neben der Chairperson* saß Zoë auf dem Boden und protokollierte
die Debatte sowie die Entscheidungen. Sie ist die Tochter des Schulgründers
A.S. Neills und seit 1985 die Schulleiterin.
Was die Neueinstellung von Lehrern bzw. Houseparents* sowie finanzielle
Angelegenheiten betrifft, ist sie so der Mathelehrer in
der Rolle einer benevolent dictator (wohlwollenden Diktatorin).
Wenn es nach einer Abstimmung zu einer Entscheidung gekommen war,
You cant watch TV or
play computer
during meetings.
nannte sie den nächsten case (Fall), der auf einer Tagesordnung
vermerkt zu sein schien.
Einem Schüler war Geld geklaut worden und sein Portemonnaie fand
sich leer auf einem Tisch wieder. Nachdem sein Case von der Chairperson
zur Diskussion angenommen und nicht ans Tribunal* verwiesen wurde, ging
es um die Frage, ob er von der Gemeinschaft einen Teil wieder zurückbekommen
soll. In einem ähnlichen Fall bekam ein Schüler, der Geld verloren
hatte, die Hälfte von der Schulgemeinschaft erstattet. Ian ist dagegen,
daß die Schulgemeinschaft in solchen Fällen von Diebstahl für
den Schaden aufkommt. Das könne dazu führen, daß mehr
geklaut werde, weil kaum jemand wirklich betroffen sei. Nach einigen Redebeiträgen
dafür und dagegen las die Chairperson noch einmal alle eingebrachten
Anträge vor, über die dann abgestimmt wurde. All in favour?
Die Zahl der Stimmen flüsterte sie ihrer Protokollantin unhörbar
zu. All against? Der Antrag auf Rückerstattung aus der
Gesamtkasse fand keine Mehrheit und wurde abgelehnt. Case dropped!,
lautete das für alle laut vernehmbare Ergebnis der Chairperson. Next
case!
Ein Schüler hatte beim Beddie Officer* gemeldet, daß ein anderer
nach der offiziellen Aufstehzeit immer noch in seinem Bett liegen geblieben
war. Daraufhin machte der Langschläfer dem aufmerksamen Schüler
das Leben schwer. Über diesen Streit wurde nun kurz diskutiert. Das
Meeting bekräftigte in seinem Beschluß, daß sich alle
an die Regeln halten müssen, und fand keine verständnisvollen
Worte für das Mobbing gegen den Verpetzer.
Die 21jährige Chairperson, ehemalige Schülerin in Summerhill
und zur Zeit
Everyone has to see
the smokers video.
Houseparent für die jüngeren, führte eine strenge Regie.
Später erklärte uns Ian, daß sich nicht alle Chairpersons
so verhielten. Sie ermahnte zu sachlichen und kurzen Diskussionsbeiträgen,
brach Diskussionen ab, um zur Abstimmung zu kommen. Es kam kaum vor, daß
sie miteinander tuschelnde Leute um Ruhe bat. Mit ihrem harschen und bestimmten:
Sit here!, zeigte sie auf einen Platz im Raum und forderte
damit immer wieder einzelne auf, sich woanders hinzusetzen, was alle,
Lehrer wie Schüler, ohne Zögern oder Beschweren zu meiner Überraschung
auch sofort taten. Die Chairperson hat ultimate power während
des Meetings, so legt es Regel Nummer 39 der Summerhill School Laws fest.
Sie erntete aber auch Kritik dafür, Diskussionen wegen Zeitmangels
abzuwürgen, bevor noch andere Standpunkte gehört worden waren,
die bei der Abstimmung berücksichtigt werden sollten. Daraufhin ließ
sie mehr Zeit zur Diskussion.
Manche Diskussionen wurden kontrovers und leidenschaftlich geführt.
Gelegentlich ertönte während eines Redebeitrags ein murmelndes
yeah, yeah! aus vielen Ecken des Raumes. Später erfuhren
wir, daß solche Seufzer dem Redner Zustimmung signalisieren.
Nachdem Ian wie mit uns verabredet den Vorschlag einbrachte,
daß wir uns vorstellten, erzählte Martin kurz von K.R.Ä.T.Z.Ä.
und nannte den Grund unseres Interesses an Summerhill. Bei der Gelegenheit
überreichten wir unser Berlin-Bilder-Buch und machten deutlich, daß
alle Summerhillians bei uns in Berlin willkommen sein werden.
Kurz vor Ende des Meetings gab Ian bekannt, daß es für alle,
die daran interessiert seien, um 19.30 Uhr eine Diskussionsrunde mit uns
in der Cafeteria geben würde. Als die Versammlung endete, wurden
wir gebeten, den Raum zu verlassen. Niemand dürfe den Raum mehr betreten.
Die Fenster wurden bereits abgedunkelt, so daß niemand mehr hineinsehen
konnte. Einige Schüler fingen bereits an, die Lounge für die
bevorstehende Halloweenparty* zu schmücken.