Gespräch
mit dem Oberschulrat
Gesprächsprotokoll
10. Juni 1996, 17 -18 Uhr
Wexstraße 2, im Landeschulamt Berlin, Außenstelle
Schöneberg
Anwesende:
Herr H. Schmidt, Oberschulrat
Benjamin Kiesewetter, Schüler
Dagmar Kiesewetter, Erziehungsberechtigte
Mike Weimann, Freund der Familie
Das Gespräch war auf Einladung von Herrn Schmidt zustande
gekommen. Er eröffnet und richtet sich an die
Erziehungsberechtigte. Er teilt ihr die Fakten aus seiner Sicht
mit:
Herr S.:
"Die Schulpflicht besteht für den gesamten Kanon."Er hat sich
erkundigt, ob zunächst pädagogischen Maßnahmen der Lehrer
gegenüber Benjamin ergriffen worden seien. Dies ist nach
seinem Eindruck geschehen: Der Rektor hätte mit Benjamin
gesprochen, die Vertrauenslehrerin hat auf seinen Brief
geantwortet, die Erziehungsberechtigte ist aufgefordert worden,
Benjamin zur Schule zu schicken. Herr Schmidt sagt, daß dies
seiner Meinung nach "ausreichend pädagogisches Feingefühl"
gewesen sei.
Nachdem nicht die gewünschte Reaktion erfolgt sei, hat der
Rektor also den Schulrat informiert und ihn aufgefordert, die
notwendigen Schritte einzuleiten.
Diese sind:
Bußgeldverhängung zwischen 500 und 5000 DM, wobei das
stattfindende Gespräch ein Entgegekommen von ihm ist, um
mitzuteilen, wie die Lage ist, und Möglichkeiten der
Verhinderung des Bußgeldes bzw. des Verwaltungsverfahrens
anzubieten.
Mit dem 10. Schuljahr ist die Schulpflicht abgeschlossen. Sollte
Benjamin in der 11. Klasse nicht zum Chemieunterricht
kommen, besteht der Tatbestand "fehlender Bildungswille".
Dieser kann von der Schule so geahndet werden, daß sie
Benjamin nicht mehr beschult. Diese Absicht besteht an seiner
jetzigen Schule.
Benjamin hat die Möglichkeit, eine andere Schule zu finden,
aber er hat bei "fehlendem Bildungswillen" nicht das Recht am
Unterricht der 11.- 13. Klasse teilzunehmen und das Abitur zu
erwerben.
Herr Schmidt versucht anschließend, die Wichtigkeit der
Chemie (und damit die Wichtigkeit des Chemieunterrichts) zu
erläutern, darüberhinaus stellt er Rahmenpläne und deren
Entstehung dar (demokratisches Gremium, Vorgaben der
Industrie etc.). Er sagt, daß die Schule zeitgemäß bleibe, weil
Anstöße von außen bei der nächsten Gesetzesänderung
eingeplant würden. Zum Beispiel hätte gerade die
Chemieindustrie an die Schule den Auftrag gegeben, Spanisch
anzubieten, weil man dies als Chemiker im allgemeinen
bräuche: "Seitdem wird an immer mehr Schulen Spanisch
unterrichtet."
Außerdem hat der Staat Regelungen geschaffen: "Benjamin
stößt mit seinem Ansinnen an Grenzen, die der Staat bzw. die
Schule sich nicht gefallen lassen können." Es betrifft auch den
"Gleichheitsgrundsatz" (wenn Benjamin zu einem Fach nicht
hingeht, dann könnten das ja auch andere Schüler für sich in
Anspruch nehmen.)
Herr Schmidt sieht in Benjamins Schritt Egoismus und
Eigennutz, er habe nicht die Gesamtheit der Dinge überlegt,
sondern nur einen kleinen Ausschnitt, den er verfolgt.
Einwurf Mike W.:
"Der Brief von Benjamin an den Direktor, in dem ausführlich
begründet wird, warum er nicht zum Chemieunterricht geht,
wurde bisher nicht beantwortet. Wann kann eine Antwort, in der
auf diese Gründe eingegangen wird, erwartet werden?"
Herr S.:
Eine solche Antwort kann gar nicht erwartet werden: "Wenn alle
Schüler Briefe schreiben würden, die beantwortet werden
müßten..."
Abgesehen davon könne jeder Erwachsene jeden einzelnen
Punkt des Briefes widerlegen. (Jeder Erwachsene der vernünftig
ist, und die Schule durchlaufen hat.)
Benjamin genießt auch seinen Schutz (in dem Sinne, daß
Schulpflicht für das Kind gut ist). Herr Schmidt appelliert an die
Erziehungsberechtigte, weitreichende Zusammenhänge zu
bedenken, die mit einer Verweigerung einhergehen. Zum Thema
Gleichbehandlungsgrundsatz erläutert er, daß die Schule
besonders aktiv geworden ist, als andere Schüler
argumentierten, wenn Benjamin zum Chemieunterricht geht,
dann brauche ich auch nicht in den Physikunterricht, Englisch
etc.
"Wenn der Gleichheitsgrundsatz nicht eingehalten wird, geht
das ganze Schulsystem kaputt."
Er holt aus, erzählt darüber, wie er die Schule empfindet. Er hält
das deutsche Schulsystem für das beste auf der Welt. Die BRD
hätte schließlich keine Bodenschätze, Bildung und Ideen seien
ihr einziges Kapital. Er ist immer noch mit der Schule eng
verknüpft, weil es ihm Spaß macht und weil er eine positive
Einstellung zur Schule hat. So gibt er gelegentlich Unterricht an
der Rückert-Schule, obwohl ihm das als Schulrat nach seiner
eigenen Auskunft nicht erlaubt ist.
Im Übrigen besteht eine Gefahr darin, daß die Länder Afrikas
und Südamerikas ein ähnlich gutes Schulsystem wie die BRD
aufbauen, dann könne die BRD zu einem Agrarland werden,
aber solche "Gruselszenarien" möchte er nicht weiter ausmalen.
Benjamin K. fragt:
"Was bedeutet 'fehlender Bildungswille'? Ist es nicht auch
'fehlender Bildungswille', wenn Schüler zwar der Schulpflicht
nachkommen, sich aber für sonst nichts interessieren?"
Herr S.:
Es bedeutet, den angebotenen Kanon nicht vollständig
wahrzunehmen. Ein "fehlender Bildungswille" könne umgekehrt
nicht pauschal festgestellt werden, wenn Schüler an der Schule
teilnehmen und sich für sonst nichts interessieren. Bei der
jetzigen Schülergeneration sei es aber gar nicht so, sie sei sehr
ernsthaft - vor zehn Jahren sei die NULLBOCK-Generation
gewesen. Er selbst hat der 68iger Bewegung angehört. Sie
haben damals viel demonstriert, viel falsch gemacht und keiner
hätte ihnen gesagt, "wie blöd wir damals waren".
Mike W. fragt:
"An welche übergeordnete Instanz kann man sich wenden, falls
man mit der hier mitgeteilten Entscheidung und Vorgehensweise
(Strafmaßnahmen in Form von Bußgeld und Abweisung von der
Schule) nicht einverstanden ist?"
Herr S. sagt:
Eine höhere Instanz gibt es in diesem Fall nicht, er ist die
höchste Instanz. Eine Ausnahme hiervon ist nur möglich, wenn
eine Nichtversetzung nicht akzeptiert wird, dann ist ein
Widerspruchsverfahren möglich. Allerdings hätte sich der Senat
noch nie gegen eine seiner Entscheidungen gestellt.
Er sieht es durchaus auch so, daß durch die Schulpflicht
Grundrechte außer Kraft gesetzt werden: "Dies hält der
Gesetzgeber für sinnvoll." Allerdings hält Herr Schmidt das
Grundrecht "Keiner darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen
werden" nicht für eingeschränkt, da Klassenarbeiten per
Definition Lernzielkontrollen seien. Er liest aus den
Ausführungsvorschriften über Klassenarbeiten für Lehrer vor.
Zwischendurch erwähnt Herr Schmidt, daß es ihm nur um die
Mitteilung der Lage geht, also um die Zwänge, in denen sich er
und die Schule befinden. Er sagt deutlich, daß der Rektor Herr
Kraschewski ihm mitgeteilt hat, daß die Schule (bestehend aus
Lehrern und Rektor) der Meinung sei, daß das Schulleben
durch Benjamin gefährdet wird.
Benjamin K.
kann dem nicht zustimmen, und zitiert zwei Lehrer, die seine
Aktion interessant und spannend finden und sich sogar über die
Denkanstöße, die davon ausgehen, gefreut haben. Seine
Klassenlehrerin ist der Meinung, daß man Benjamin
Bildungswillen nicht absprechen könnte.
Herr S.
besteht darauf, daß die Lehrer sich so geäußert hätten und
Benjamin also doch nicht so intelligent ist, wie es Frau Kostro
(die Vertrauenslehrerin) in ihrem Brief geschrieben hatte.
Ein weiteres Argument dafür, daß der Schulpflicht gefolgt
werden müsse, bzw. daß die Mutter für ihre Einhaltung sorgen
muß, besteht darin, daß die Mutter ja auch von Maßnahmen des
Staates profitiert, wie z.B. der Beleuchtung der Straßen.
Wie verfahren wir nun?:
Herr S. möchte kein "großes Ding draus machen". Er deutet an,
daß das Bußgeld nicht mehr in Frage kommen muß, da das
Schuljahr bald zu Ende ist. Er möchte von der
Erziehungsberechtigten eine Stellungnahme noch während des
laufenden Schuljahres, das am 20. 6. endet.
Dagmar K.
sagt zu, innerhalb einer Woche anzurufen.
gez. Dagmar Kiesewetter, Benjamin Kiesewetter, Mike Weimann