Rechtsanwalt und Notar
Jens A. Brückner
Moselstraße 3
12159 Berlin
Verwaltungsgericht Berlin
Kirchstraße 7
10557 Berlin
14.3.1997
In der Verwaltungsstreitsache Kiesewetter / Landk Berlin VG 3 A1720/96
wird beantragt,
1.die Berufung zuzulassen
2. in Abänderung des angefochtenen Urteils
a) festzustellen, daß der Kläger nicht verpflichtet war, im zweiten
Schulhalbjahr 1995/96 Chemieuntericht teilzunehmen,
hilfsweise festzustellen,
daß die Beklagte verpflichtet war, den Kläger im zweiten Schulhalbjahr
1995/96 von der Teilnahme am Chemieuntericht zu befreien,
b) festzustellen, daß der Kläger nicht verpflichtet ist, im Schuljahr
1996/97 am Chemie-untericht teilzunehmen,
hilfsweise,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides der Robert- Blum-Oberschule
vom 4.9.96 und des Bescheides der Senatsverwaltung für Schule, Jugend
und Sport vom 18.2.1997 zu verpflichten, den Kläger im Schuljahr
1996/97 von der Teilnahme am Chemieunterricht zu befreien.
Die Berufung ist zuzulassen, da der Rechtsstreit über den Einzelfall
hinaus Rechtsfra-gen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft. Die
Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der in höchst richterlicher
Rechtsprechung nicht geklärten Frage ab, ob die Festle-gung einzelner
Unterrichtsfächer und die Klassen der Schulstufen, in denen diese
Un-terrichtsfächer zu unterrichten sind, zu den wesentlichen Entscheidungen
im Schulwe-sen gehört, die der Schulverwaltung selbst nicht überlassen
bleiben können, sondern durch oder aufgrund eines Gesetzes zu treffen
sind. Das angefochtene Urteil geht da-von aus, daß sich mit der
Frage, ob der Pflicht-Fächerkanon nach dem Wesentlichen-keitsgrundsatz
insgesamt vom Schulgesetzgeber vorgeschrieben werden muß, bislang
nicht Gegenstand höchst richterlicher Rechtsprechung gewesen ist,
meint aber, diese Frage aufgrund der von der höchst richterlichen
Rechtsprechung entwickelten Grund-sätze dahingehend beantworten
zu können, daß eine grobe Umschreibung der Bil-dungsziele dem Gesetzesvorbehalt
hinreichend Rechnung trägt und es einer ins Detail gehenden gesetzlichen
Festlegung der herkömmlichen Pflichtschulfächer nicht bedarf.
Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.
1.
Bereits die Schulrechtsreform des Deutschen Juristentages hat im
Jahre 1981 gefor-dert, daß es auf Grund des Gesetzesvorbehaltes
rechtlich zwingend erforderlich ist, die Gegenstandsbereiche des
Unterrichts und gegebenenfalls die Lehrpläne druch Gesetz festzulegen.
Im Musterentwurf eines Schulgesetzes wird daher in § 6 - Gegenstandsbe-reiche
des Unterrichts - konkretisiert, in welchen Gegenstandsbereichen
Unterricht zu gewährleisten ist, und zwar differenziert nach Primarstufe
I und Sekundarstufe II.
Dabei werden die Kultusminister ermächtigt, durch Rechtsverordnung
für die einzelnen Schulstufen, Schularten und Schuljahrgänge die
Unterrichtsfächer sowie die Verbind-lichkeit der Unterrichtsfächer
und das Verhältnis von Wohl-, Wahlplfichtfächern und Wahlbereich
festzulegen.
Daß insoweit eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, dürfte
spätestens auf Grund der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
zur Förderstufe (BVerfG 34, 165), zum Speyerkolleg (BerfG 41, 251
ff), zur Gymnasialen Oberstufe (BVerfG 45, 400 ff), zur Sexualkunde
(BVerfG 47, 46 ff) und zum Schulausschluß (BVerfG 58, 257) bekannt
sein.
Das Gesetz des Vorbehalts erfordert, daß der Gesetzgeber im Hinblick
auf das Rechts-staats- und Demokratieprinzip aus Artikel 20 GG die
"wesentlichen" Entscheidungen im Schulwesen selbst zu
treffen hat und nicht der Schulverwaltung überlassen darf. Nach
der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE
58, Seite 257 ff) ist zwischen einem Rechtssatzvorbehalt und einem
Parlamentsvorbehalt zu unter-scheiden. Danach bedürfen grundrechtsrelevante
Regelungen zumindest einer auf ge-setzlichen Grundlagen ergangenen
Rechtsverordnung (Rechtssatzvorbehalt), während intensiv grundrechtsrelevante
Regelungen nur vom Gesetzgeber selbst im förmlichen Gesetz getroffen
werden dürfen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Differen-zierung
des Bundesverfassungsgerichtsrechts zwischen Rechtssatzvorbehalt
und Parlamentsvorbehalt nicht nachvollzogen (Bundesverwaltungsgerichtsentscheid
64, Seite 308 ff), doch kommt es darauf nicht an, da das Berliner
Schulgesetz weder eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage schafft
noch der Fächerkatalog durch Rechts-verordnung geregelt ist. Damit
werden selbst die Voraussetzungen des Rechtssatzvor-behaltes nicht
erfüllt (vergleiche dazu Staupe, Parlamentvorbehalt und Delegationbe-fugnis,
1986; Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, Seite 166 ff).
2.
Das angefochtene Urteil stellt darauf ab, daß fachgebend dafür,
die Einführung neuer Unterrichtsfächer und Schulformen von einer
Grundentscheidung durch formelles Ge-setz abhängig zu machen, der
Umstand war, daß etwa der Sexualkundeunterricht und die einheitliche
Orientierungsstufe nicht mehr von dem bis dahin bestehenden Konzens
über Ziele, Gegenstände und Organisation des Schulwesens gedeckt
waren und die Entscheidung in besonderem Maße Grundrechtspositionen
berührt. Es ist nicht er-kennbar, daß die Frage der Unterrichtung
eines Chemieunterrichts zur 7., 8., 9., 10., 11. oder 12 Klasse
in stärkerem Maße Grundrechtspositionen berührt als die Einfüh-rung
oder der Wegfall einer Pflichtfremdsprache in einer neu eingeführten
Orientie-rungsstufe. Jedes Unterrichtsfach, welches in der Schule
abverlangt wird, berührt Grundrechtspositionen. Der Kläger geht
grundsätzlich von einem Recht auf Bildung aus. Dieses Recht auf
Bildung kann auch das Recht auf Bildung in den von ihm ge-wollten
Fächern und Unterrichtsfächern umfassen. Werden bestimmte Fächer
festge-legt und wird festgelegt, in welchen Klassenstufen diese
Fächer zu unterrichten sind, so liegt darin grundsätzlich eine Einschränkung
der Handlungsfreiheit und des Rechts auf Bildung.
Abgesehen davon, daß der Konzens nicht als Maßstab dafür genommen
werden kann, ob eine gesetzliche Regelung erforderlich ist, ist
ein Konzens darüber, daß ein Unter-richtsfach Chemie im 10. oder
11. Schuljahr eines Gymansiums zu unterrichten ist ge-nauso wenig
gegeben, ob im 9. Schuljahr ein halbes Jahr Kunst, im nächsten Halbjahr
Chemie zu unterrichten ist oder im 8. Schuljahr in einem Halbjahr
Geschichte, im näch-sten Erdkunde. In welchem Umfange bzw. wann
welche Unterrichtsfächer angeboten werden, hängt nicht nur von den
rationalen Erwägungen des Bildungsinhaltes ab, son-dern auch von
der Verfügbarkeit von Lehrern.
Im übrigen ist die Frage, welche Unterrichtsfächer bzw. in welchen
Klassen bestimmte Unterrichtsfächer zu unterrichten sind, in den
einzelnen Bundesländern sehr unter-schiedlich entschieden worden.
Zwar stimmen Schulgesetze bzw. die in den Ländern getroffenen Regelungen
dahingehend überein, daß zumindenst eine Naturwissenschaft auch
in der Oberstufe zu unterrichten ist, doch ist unklar, ob es sich
hierbei um das Fach Biologie, Chemie oder Physik handeln soll. Auch
insofern kann angesichts der tatsächlich getroffenen Regelungen
in den unterschiedlichen Bundesländern von einem Konzens nicht ausgegangen
werden.
3.
Dem angefochtenen Urteil kann darin nicht gefolgt werden, daß in
§ 1 Satz 1 Schulge-setz bzw. § 32 Abs. 1 Schulgesetz eine hinreichende
Rechtsrücklage gesehen wird. § 1 Satz 1 Schulgesetz beschreibt die
Aufgabe der Schule dahingehend, daß sie Kindern und Jugendlichen
ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründlichem Wissen und Können zu
übermitteln hat. Auch wenn ein Konzens über die Ziele gegeben sein
mag, so können die Wege dahin sehr unterschiedlich sein. Ob diese
Ziele mit den gegenwärtigen Unter-richtsfächern oder mit weiteren
Unterrichtsfächern wie Rechtskunde, elektronische Datenverarbeitung
oder türkisch als zweite Fremdsprache nicht besser zu erreichen
sind, ist eine Grundentscheidung, die nicht von der Verwaltung getroffen
werden kann. Zwar geht § 32 Abs. 1 Satz 2 und 3 Schulgesetz davon
aus, daß das Gymnasium Ge-legenheit bieten soll, die Studierfähigkeit
zu erreichen, doch ist zum einen das, was "Studierfähigkeit"
ist, kontrovers und nicht von einem Konzens gedeckt, zum anderen
auch insoweit in den einzelnen Bundesländern eine unterschiediche
Regelung erhalten. Das erstinstanzliche Urteil stellt darauf ab,
daß aus diesen Regelungen hervorgehe, daß die Berliner Schule, namentlich
das Gymnasium, das Ziel verfolge, den Schülern einerseits eine breit
fundierte, zu Hochschulreife führende Allgemeinbildung zu vermit-teln,
andererseits in der gymnasialen Oberstufe im Rahmen der Zielsetzung
Schwer-punkte zu setzen und Wahlmöglichkeiten einzuräumen. Aus dieser
Zielsetzung läßt sich aber weder ableiten, daß das Fach Chemie neben
Physik und Biologie zu den na-turwissenschaftlichen Grunddisziplinen
gehört, noch daß das Fach Chemie zumindest bis Abschluß der 11.
Klasse zu unterrichten ist und erst dann abgewählt werden kann.
Die Bildungsbestimmungen lassen weder hinreichend deutlich noch
überhaupt erken-nen, daß die Aufnahme des Faches Chemie in die Pflichtstundentafel
der Sekundar-stufe I und der Einführungsphase der Oberstufe des
Gymansiums dem Willen des Getzgebers entsprechen. Dies gilt im übrigen
nicht nur für das Fach Chemie. Anstelle des Faches Chemie könnte
mit der gleichen Beliebigkeit Erdkunde, Sozialkunde, Ge-schichte,
Musik, Sport, Kunstunterricht etc. eingesetzt werden. Ebenso wäre
es denk-bar, diese Fächer durch Fächer wie Rechtskunde, elektronische
Datenverarbeitung, türkisch, Lebenskunde-Ethik-Religion, Arbeitslehre
etc. zu ersetzen. Auch die jetzt ge-nannten Fächer sind geeignet,
den Kindern und Jugendlichen ein Höchstmaß an Ur-teilkraft, gründlichem
Wissen und Können zu vermitteln bzw. eine zur Hochschulreife führende
Allgemeinbildung zu vermitteln.
4.
Entgegen dem angefochtenen Urteil bedarf es daher einer Entscheidung
darüber, ob eine ausreichende gesetzliche Festlegung der Pflichtunterrichtsfächer
erfolgt ist. Eben-sowenig kann es dahinstehen, ob bei Fehlen einer
notwendigen gesetzlichen Fest-schreibung des Fächerkanons automatisch
eine Verpflichtung zur Teilnahme am Che-mieunterricht oder anderen
Pflichtfächern entfallen würde oder bestehene Rechtszu-stand aus
übergeordneten Gründen der Aufrechterhaltung eines geordneten Schulbe-triebes
für die Übergangszeit hingenommen werden müßte. Diese Frage stellt
sich erst dann, wenn grundsätzlich davon auszugehen ist, daß der
Kanon der einzelnen Unter-richtsfächer oder die Dauer, während der
die Unterichtsfächer zu unterrichtenden sind, einer gesetzlichen
Grundlage bedürfen.
Ich verweise insoweit auf das Vorbringen im Schriftsatz vom 22.12.1996
und mache das dortige Vorbringen zum Gegenstand auch des Berufungsverfahrens.
5.
Zwischenzeitlich hat die Beklagte hinsichtlich der Befreiung vom
Chemieunterricht in der Klassenstufe 11 unter dem 18.2.1997 Widerspruchsbescheid
erteilt. Der Klagean-trag zu 2. wird daher auf diesen Bescheid erstreckt.
Beglaubigte Abschrift anbei
Brückner, Rechtsanwalt
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