Pressemitteilung

K.R.Ä.T.Z.Ä.
KinderRÄchTsZÄnker
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Mittwoch, 9. April 1997

Pressemitteilung

Streit um Lernzwang
geht weiter

Chemieunterrichtsverweigerer geht
zum Oberverwaltungsgericht

 




Die Kinderrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. hat Berufung gegen die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts eingelegt, wonach der Schüler Benjamin Kiesewetter nicht vom Chemieunterricht zu befreien sei. Jetzt soll das Oberverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob Schüler grundsätzlich mit Begründung Unterrichtsfächern fernbleiben dürfen.

Im Februar hatte das Berliner Verwaltungsgericht die Klage des 17jährigen Schülers zurückgewiesen, mit der die Befreiung vom Chemieunterricht durchgesetzt werden sollte. In dem Urteil gibt das Gericht die drei folgenden Gründe für die Ablehnung an:

Die rechtliche Grundlage sei der § 28 des Schulverfassungsgesetzes, "wonach jeder Schüler verpflichtet ist, am verbindlichen Unterricht teilzunehmen", so der Vorsitzende Richter Rueß. Chemieunterricht sei in ausführenden Verwaltungsvorschriften als verbindliche Unterrichtsveranstaltung im Fächerkanon festgehalten. Dieser Fächerkanon müsse entgegen der Rechtsauffassung des Klägers nicht durch Gesetz geregelt werden. So seien zwar nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts alle wesentlichen Entscheidungen des Schulwesens vom Gesetzgeber zu treffen, dies gelte aber nur für "die Einführung neuer Unterrichtsfächer wie etwa der Sexualerziehung", weil diese in besonderem Maße Grundrechtspositionen berührten.

Das Fach Chemie gehöre "neben Physik und Biologie zu den naturwissenschaft-lichen Grunddisziplinen", und es bestünde somit ein "Konsens" darüber, daß Chemie auch in den Klassen 10 und 11 Pflicht sei.

Einer Befreiung von der Schulpflicht könne auch deshalb nicht stattgegeben werden, weil "individuelle und gewichtige Gründe für die beantragte Befreiung" nicht vorlägen.

Die Entscheidung und Begründung des Berliner Verwaltungsgerichts wurde von den KinderRÄchTsZÄnkern und ihrem Anwalt Jens Brückner kritisiert. "Werden bestimmte Fächer festgelegt und wird festgelegt, in welchen Klassenstufen diese Fächer zu unterrichten sind, so liegt darin grundsätzlich eine Einschränkung der Handlungsfreiheit und des Rechts auf Bildung", so Brückner. Es sei somit nicht erkennbar, wieso der im Urteil angeführte Wegfall von Wahlmöglichkeiten der 1. Fremdsprache oder die neu eingeführte Sexualerziehung in stärkerem Maße Grundrechtspositionen berührten als der Chemieunterricht.

Von einem "Konsens" könne schon deshalb nicht gesprochen werden, weil in anderen Bundesländern Chemie in der 11. Klasse kein Pflichtfach mehr sei. Selbst wenn ein Konsens über die Ziele der Schule gegeben sein mag, so könnten die Wege dahin sehr unterschiedlich sein. Ob diese Ziele mit den gegenwärtigen Unterrichtsfächern oder z.B. mit Rechtskundeunterricht besser zu erreichen seien, sei eine Grundentscheidung, die nicht von der Verwaltung getroffen werden dürfe.
Auch die Argumentation, Benjamin habe keine individuellen und gewichtigen Gründe genannt, sei nach Meinung der Kinderrechtler "sehr fragwürdig". Benjamin Kiesewetter habe in seiner siebenseitigen Begründung beispielsweise geltend gemacht, daß ihm durch den Lernzwang seine "Lernfähigkeit und Lernfreude kaputtgemacht" würden. Auch die fünf anderen Argumente der Begründung seien durchaus individuell gewichtig.

"Dieses Urteil benutzt wiedereinmal das schlagkräftige Argument 'Das war schon immer so!'", kommentierte der Schüler Benjamin Kiesewetter die Entscheidung.

Der Berliner Schüler hatte im Zusammenhang mit seiner monatelang andauernden Un-terrichtsverweigerung weiterhin angegeben, daß die Lehrinhalte des Chemieunterrichts für ihn überflüssig seien und daß dieser Unterricht deshalb seine Zeit und Kräfte verschwende. Unter Druck und Angst lernen zu müssen, sei nach Meinung von Wissenschaftlern "gesundheitsschädlich". Erkenntnisse aus Lernbiologie und Lernpsychologie zeigten, welche Schäden unfreiwilliges Lernen anrichten könne. Der Chemieunterricht sei auch für seinen Schulabschluß nicht von Bedeutung, da er das Fach nach der 11. Klasse ohnehin abwählen könne. Schließlich bezog er sich auf juristische und men-schenrechtliche Positionen über "das Recht, sein Lernen selbst zu bestimmen".

Den KinderRÄchTsZÄnkern geht es bei all ihren Aktionen grundsätzlich um die Gleich-berechtigung aller Menschen unabhängig vom Alter. Eine ihrer Forderungen ist es, den Schulzwang durch ein vernünftig geregeltes Recht auf Bildung zu ersetzen.

Der Fall der Unterrichtsverweigerung hatte in den letzten Monaten bundesweit in den Medien Aufmerksamkeit erregt.

 



Zahlreiche weitere Informationen (u.a das Urteil des Verwaltungsge-richts und die neue Klageschrift) finden Sie in unseren
überarbeiteten und aktualisierten Internetseiten.
Auch ein Pressefoto kann man downloaden.
http://privat.schlund.de/kraetzae
Wir freuen uns auf ihren Rückruf: 030/4254532



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