Benjamin Kiesewetter
Langenscheidtstr. 12
10827 Berlin
X. Y.
Vertrauenslehrerin
Robert-Blum-Schule
Berlin, 11.4.1996
Schreiben vom 16.3.96
Liebe X.,
vielen Dank für Dein Schreiben. Ich möchte in meiner Antwort
Mißverständnisse aus dem Weg räumen, Fehler zugeben und
mit Argumenten einige Behauptungen widerlegen. Ich gehe
zuerst Deine drei wichtigsten Argumentationsfelder durch:
1. "Du wirst persönlich"
Es gibt verschiedene Gründe, die mich dazu bewegt haben, den
Chemieunterricht in Zukunft nicht mehr zu besuchen. Der
wichtigste (deshalb auch unter Punkt 1 aufgeführt) war, daß ich
festgestellt habe, daß mich die Inhalte nicht interessieren. Ich
habe begründet, daß es ohne Interesse kein effektives Lernen
geben kann. Ich kann aber nicht begründen, warum es mich
nicht interessiert, sondern im Großen und Ganzen nur mitteilen.
Ein anderer Grund war, daß ich mich u.a. deshalb dort
überhaupt nicht mehr wohlgefühlt habe. Das kann ich
begründen - und das geht nur durch das Schildern konkreter
Abläufe im Chemieunterricht. Mein Brief soll kein Angriff sein -
und es tut mir leid, wenn dies so aufgefaßt wurde. Ich
beschwere mich nicht über die genannte Chemielehrerin, und
es geht mir nicht darum, daß sie sich oder ihre
Verhaltensweisen ändert. Ich möchte nur das Recht haben,
mich ihr und ihren Verhaltensweisen zu entziehen. Und ich
möchte begründen, warum ich das möchte. Darum geht es in
Punkt 3 meiner Begründung.
2. "Wende Deine Kritik an den Staat!"
Das scheint mir die Hauptaussage Deines Briefes zu sein. Aber
wer ist der Staat? Als Beamte seid Ihr - Lehrer - immerhin
Staatsdiener.
Wie sollte ich Deiner Meinung nach gegen die Ungerechtigkeit,
daß ich zum Chemieunterricht gezwungen werde, vorgehen,
wenn ich den Fall nicht an einem konkreten Punkt festnagele?
Ich versuche genau mit dieser Aktion den Staat anzuklagen, weil
es durch meine Verweigerung zu einer offiziellen Entscheidung,
bzw. Diskussion kommen muß. Wie Du ja weißt, versuche ich
zudem schon seit langem, meine Kritik auf der Basis der
einfachen Meinungsäußerung anzubringen (siehe auch unser
Plakat "Was wir an der Schule falsch finden"). Das führt in der
Diskussion zwar vielfach zu Zustimmung, geändert wird aber
nichts. Ich finde, es muß jetzt langsam etwas mehr geschehen.
Ich bin der Meinung, daß jeder Mensch dazu stehen sollte, was
er tut. Es geht dabei nicht darum, ob es andere auch tun, oder
ob es im Rahmenplan steht. Du schreibst, ich kritisiere eine
Lehrerin, obwohl sie nur tue, was sie tun müsse (soweit ich mich
recht entsinne, gilt die Schulpflicht nicht für Lehrer, daher kann
man von "müssen" eigentlich nicht sprechen). So wie ich die
Mauerschützenprozesse verstanden habe, kann man sogar für
bestimmte Handlungen bestraft werden, zu denen man
"verpflichtet" ist, wenn sie gegen übergeordnete humanistische
Prinzipien verstoßen.
Beim vorliegenden Fall (als Analogie gesehen) muß ich mich
jetzt entscheiden, ob ich stumpfsinnig meine Pflicht tue
(Teilnahme am Chemieunterricht) oder nach meiner
Überzeugung - die ich ja ausführlich begründet habe und mit
der ich auch nicht alleine stehe - handele. Der Vergleich mit den
Mauerschützen paßt übrigens auch auf die Lehrer im
"überholten preußischen System" (wie Du schreibst). Beiliegend
erhältst Du einen Zeitungsartikel über den Schuldirektor einer
"staatlichen, allgemeinbildenden" Grundschule Rolf Robischon,
der seine Schüler nicht zum Lernen zwingt.
3. "Der Staat muß Lerninhalte bestimmen, um
Chancengleichheit zu erreichen."
Deine Lösung des Problems Lernzwang entspricht nicht meinen
Vorstellungen. Unseren staatlichen Schulzwang mit
Chancengleichheit zu rechtfertigen, gelingt auch nicht, wenn
man genau hinsieht: Wöchentlich werden in Deutschland 30
Mio. DM an Nachhilfeunterricht ausgegeben, 12 % der
Berliner Schulabgänger haben keinen Abschluß - und Du
sprichst von Chancengleichheit in unserem Schulsystem!
Die oberen und unteren Schichten, die "Kastengesellschaft"
haben wir - nur ist sie bei uns ein bißchen versteckt worden. Die
jetzige Staatsschule ist dazu da, zu trennen zwischen
Menschen, die Abitur haben, Menschen, die einen niedrigeren
Abschluß haben und Menschen, die keinen haben (kein Geld für
Nachhilfeunterricht?). Das sind unsere Kasten! Und die Schule
hat ein Monopol darauf, einzusortieren. Meiner Meinung nach
kann Chancengleichheit gar nicht erreicht werden, wenn
Menschen mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten alle
dasselbe lernen sollen und nach einheitlichen
Bewertungsmaßstäben gemessen werden.
Ich teile insbesondere nicht Deine Auffassung, daß die einzige
Alternative Privatschulen für die Reichen sind. Was ich möchte,
ist das Recht auf Lernen für alle Menschen - mit großem
Angebot. Und dafür hätten wir genügend Geld, wenn nicht ein
Großteil des Schuletats dafür ausgegeben würde, die Schüler in
der Schule zu halten. Die Anwesenheitspflicht und der
Lernzwang schränken das Lernrecht erheblich ein, weil nach
sämtlichen Klassenbucheinträgen, Disziplinarmaßnahmen (z.B.
Klassenkonferenz), Besprechung oder Verfolgung von
Unterrichtsstörungen Geld, Zeit und Energie fehlt, um wirklich
beim Lernen zu helfen.
Zu Deinen Vor- und Nachbemerkungen fallen mir noch drei
Absätze ein:
Du bezweifelst, daß Schule und Lernzwang
gesundheitsschädlich sind. Hierzu empfehle ich Dir das Buch
"Ärzte sehen Schule" von Reinhard Lempp und Hans Schiefele
(Beltz Verlag). Dort wird z.B. festgestellt, daß nahezu ein Drittel
aller Kinderarztpatienten wegen Schulproblemen kommen.
Deine Behauptung, daß niemand mich zum "angepaßten
Bürger" erziehen will, teile ich nicht (ich kenne auch mehrere
Beispiele dafür). Aber selbst wenn mich kein einzelner Lehrer
zum Gehorsam erziehen wollte, geht es in letzter Konsequenz
bei der gesamten Schulmaschinerie sehrwohl um Gehorsam.
Unser Schulsystem stammt - wie die Armee - aus
vordemokratischen Zeiten. Und wenn die Menschen die
ersten Jahre ihres Lebens in einer Antidemokratie leben,
wird es auch nie eine funktionierende "erwachsene"
Demokratie geben.
"Boykottiere nicht den kritisierten Bereich" schreibst Du. Meine
Kritik wendet sich primär aber gar nicht gegen den Bereich,
sondern gegen die Tatsache, daß ich in ihn hineingezwungen
werde. Ich möchte selbst entscheiden, womit ich mich
beschäftige.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Benjamin Kiesewetter
PS.: Rolf Robischon hat sicherlich nichts dagegen, daß ich Dir
seine Adresse gebe, falls es Dich interessiert, näheres von ihm
zu erfahren.
Kopien an: Schulleitung, Chemielehrerin, Schülervertretung,
Klassenlehrerin und weitere interessierte Menschen.
Zeitungsartikel aus "Publik-Forum":
"Bei mir muß kein Kind Angst haben"
Der Grundschulrektor Rolf Robischon geht neue Wege - und
bekommt Ärger mit der Kultusbürokratie
"Überall, wo einer Grenzen überschreitet, wird ein Feld erweitert.
Das macht es uns andern leichter, neue Schritte zu gehen", sagt
Heinrich Waldschütz, Leiter einer Grundschule im Ortenaukreis.
Weil er neue Schritte in der Schule für dringend nötig hält,
empfindet er seinen Kollegen Rolf Robischon als "wohltuende
Bereicherung": "Er hat recht, Kindern einen positiven Zugang
zum Lernen zu ermöglichen. Zur Schulverweigerung kommt es
häufig, weil der Einstieg mißglückt." Robischon leitet eine
staatliche Grundschule in Bad Krozingen bei Freiburg.
"Kaze" hat die Erstkläßlerin Julia geschrieben. Nicht im Traum
würde Rolf Robischon einfallen, das Wort als Fehler
anzustreichen, dem Kind gar zu predigen, wie es richtig
geschrieben wird. Schließlich sieht er seine Aufgabe als Lehrer
nicht im Aufspüren von Defekten, Lernen nicht als
"Fehlervermeidungstraining", Unterricht nicht als
"Reperaturmaßnahme". Ein Kind ist für ihn ein Mensch von
Anfang an, nicht einer, aus dem noch etwas werden soll. "Ich
kann ihn sich entfalten lassen, aber nicht einen anderen aus ihm
machen." Immerhin hat Julia gerade etwas Wichtiges entdeckt:
daß es außer der gesprochenen Sprache, dem Anschauen oder
Berühren auch noch Zeichen, die Schrift, gibt, um sich mit
anderen auszutauschen. Sie hat "Kaze" geschrieben, wie sie es
sprechen gelernt hat, ganz selbständig.
Statt als Kommunikationsmittel gilt die Schrift in den
Bildungsplänen freilich als "Kulturtechnik". Damit wird sie laut
Robischon zum "Meß- und Kontrollinstrument". Mit seinen
Vorstellungen von dem, was Lernen ist, hat das nicht mehr viel
zu tun. Wo Noten als Druckmittel im Vordergrund stehen,
lernten Kinder nicht mehr, um sich Wissen anzueignen, sondern
um der Noten willen. Bestrafen oder Loben seien da nur zwei
Seiten einer Medaille: Konditionierungs- und
Manipulationsversuche mit der Absicht, ein Kind nach dem
eigenen Bild (oder dem der Kultusbürokratie) zu formen. Da
mag das "Unterrichts-Entertainment" noch so gelungen sein.
Robischons Menschenbild ist ein anderes. "Eingriffe verstören,
hinterlassen Verletzungen", sagt er. Das Wort Erziehung möchte
er lieber durch "Entwicklung" ersetzt sehen. Denn er vertraut auf
die eigenen Impulse seiner Schülerinnen und Schüler und
akzeptiert notfalls, daß einer Papierflieher macht aus den
Arbeitsblättern, die er austeilt. Denn "alles, was sie damit tun, ist
richtig".
"Lernen ist wie Atmen" heißt sein Credo (so auch der Titel
seines im AOL-Verlag erschienenen Buches). "Ein Kind streckt
seine Fühler aus, spinnt Fäden, stellt Beziehungen her
zwischen seinem Gehirn und dem, was es wahrnimmt." Lernen
ist für ihn dagegen nicht von außen zugestopft werden mit
präparierten Lerninhalten, so wie Computer programmiert
werden. Was er gerne auch als "Kübeltheorie" beschreibt. In
puncto Lernen gibt es für Robischon nur ein klares Entweder-
Oder. Auf Kompromisse - etwa den, daß lernen eine Synthese
aus Angebot (von außen) und Nachfrage (von innen) sein
könnte - mag er sich nicht einlassen. "Soweit bin ich noch nicht",
bekennt der 56jährige Pädagoge aus Leidenschaft. "Ich traue
den Kindern zu, daß sie die Verantwortung für das, was sie tun,
selber übernehmen."
Das hat Konsequenzen für die Lehrerrolle, die sich bei ihm
darauf beschränkt, Lerngelegenheiten bereitzustellen. "Die
Kinder erfinden dann schon, was man daraus machen kann."
Und es hat Konsequenzen für seinen Unterricht: Weder gibt es
Hausaufgaben noch feste Sitzodnungen noch stur
einzuhaltende Anfangszeiten. "Bei mir muß kein Kind Angst
haben, zu spät zu kommen." Und wenn eines feststellt, daß es
sich geirrt hat, oder nachfragt, weil es mit einer Arbeit nicht
weiterkommt, dann "verweise ich auf ein anderes Kind, und sie
reden darüber. Denn die Kinder sind selbst Experten in dem,
was sie tun." Es ist ihm "unheimlich wichtig, daß sie sprechen
und einander zuhören." Im weitesten Sinn versteht er seine
Arbeit in der Schule deshalb auch als einen Beitrag zur
Friedenserziehung. Als "unglaublich humanen Pädagogen" hat
ihn sein Kollege Waldschütz erlebt. "Wenn ein Kind ein anderes
angreift, tröstet er den Angreifer. Denn dieses Kind sieht er aus
dem Gleichgewicht geraten." Sehr beeindruckt ist er von
Robischons pädagogischem Konzept. "Aber es ist nicht auf
jeden übertragbar. In seiner Person ist es stimmig."
Überfordert fühlt sich Robischon von seiner "offenen Schule"
dennoch nicht. "Dann würde ich aufhören." Unter Druck gesetzt
sieht er sich vielmehr durch "die Einengungen der Bürokratie".
Wer seinen Unterricht besuchen will, muß in der Tat hohe
Hürden überwinden: über das staatliche Schulamt einen Antrag
stellen an das Oberschulamt; Tag; Umfang und Gründe für den
Schulbesuch genau benennen und danach auf die schriftliche
Genehmigung warten - sofern sie überhaupt erteilt wird. Die
Abwehr der zuständigen Schulrätin ist deutlich spürbar. Von
offener Schule keine Spur. Da soll offenbar ein ungewöhnliches
pädagogisches Konzept unter dem Deckel der Zensur gehalten
werden. Die baden-württembergische Kultusbürokratie liefert
damit in flagranti den Beweis dafür, wie unerläßlich Pionier-
Pädagogen in einer versteinerten Bildungslandschaft sind. Auch
wenn ihre Thesen allzu radikal, ihr Menschenbild allzu
idealistisch erscheinen. Auch wenn sie bei Kollegen und Eltern
umstritten sind.
"Man kann nicht alles dem Kind überlassen", davon ist
Edeltraud Zeller überzeugt. Vieles an Rolf Robischons
Unterricht findet sie "unrealistisch" und allenfalls in kleinen
Klassen wie der ihres Sohnes Andreas mit 15 Schülern zu
verwirklichen. Ihren Sohn drängt sie Hausaufgaben zu machen,
auch wenn er nie welche aufhat. "Ich bin der Überzeugung, daß
es ohne das nichts wird." Sie hat oft das Gefühl, daß es in
Robischons Unterricht so turbulent zugeht, daß die Kinder gar
nicht zum Arbeiten kommen. Doch sagt auch sie, daß sie die
Klasse auch schon konzentriert hat arbeiten sehen, ohne daß
irgend jemand sie dazu aufgefordert hatte. Und die Angst, sie
könnten mit Blick auf weiterführende Schulen nicht genug
lernen, ist durch ihre eigene Tochter widerlegt worden. Sie war
ebenfalls Robischons Schülerin und wurde mit einer
Empfehlung fürs Gymnasium aus der Grundschule entlassen.
Aber sie sei auch von Anfang an "unheimlich neugierig und
lernbegierig" gewesen. Andere dagegen "brauchen manchmal
einen Schubser".
Rolf Robischon läßt sich von kritischen Stimmen nicht beirren.
"Ich kann nicht mehr zurück", sagt er. Und wenn manche über
das vermeintliche "Chaos" in seinem Unterricht stöhnen und
sich an einen Ameisenhaufen erinnert fühlen, bleibt er gelassen.
"Wer selbst keine Ameise ist, kann die Ordnung darin nicht
erkennen und wünscht sich den Gänsemarsch."
Anita Rüffer
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