Rechtsanwalt und Notar
Jens A. Brückner
Moselstraße 3
12159 Berlin
An den Schulleiter der
Robert-Blum-Oberschule
Kolonnenstr. 21-23
10829 Berlin
Datum: 21.10.1996
Schüler Benjamin Kiesewetter Sehr geehrter Herr Kraschewski,
namens und in Vollmacht von Herrn Benjamin Kiesewetter lege ich
gegen den Bescheid vom 4.9.96, mit welchem die Befreiung vom Chemieunterricht
für das Schuljahr 1996/97 abgelehnt wird Widerspruch ein und beantrage,
den Schüler vom Chemieunterricht zu befreien. Zur Begründung verweise
ich auf das bisherige Vorbringen sowie mein Ihnen bekanntes Schreiben an Oberschulrat Schmidt vom 26.8.96. Zwar hat die Senatsverwaltung
für Schule, Jugend und Sport zwischenzeitlich den Widerspruch gegen
die Ablehnung der Befreiung von der Teilnahme am Unterricht im Fach
Chemie in der Klasse 10 zurückgewiesen, doch habe ich gegen diese
Entscheidung Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin erhoben. Aufgrund
des Terminstandes des Verwaltungsgericht ist mit einer Entscheidung
frühestens im Spätherbst 1997 zu rechnen. Über eine mögliche Klage
gegen die Ablehnung des Antrags auf Befreiung vom Chemieunterricht
im 11. Schuljahr würde zu einem entsprechenden späteren Zeitpunkt
vom Gericht entschieden werden. Ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen
Anordnung auf Befreiung von der Teilnahme am Unterricht im Fach
Chemie erscheint aus formalen Gründen nicht hinreichend erfolgversprechend.
Es steht zu befürchten, daß das Verwaltungsgericht sich mit den
materiellen Problemen nicht auseinandersetzt sondern darauf abstellen
wird, daß kein Anordnungsgrund gegeben ist, weil unzumutbare Nachteile,
die eine vorzeitige Klärung erforderlich machen, nicht gegeben sind.
Wenn in dieser Situation anstelle der mit Schreiben
vom 26.8.96 angeregten pädagogischen Lösung mit dem Mittel der
Erziehungsmaßnahme nach Paragraph 55 des Schulgesetzes vorgegangen
werden soll, so begegnet dies pädagogischen und rechtlichen Bedenken.
Die zugrundeliegende Rechtsfrage ist nicht geklärt. Durch die Einleitung
von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen wird die ungeklärte Rechtsfrage
aus der Sicht des Schülers zu einem Disziplinierungsinstrument.
Die Redlichkeit des Auftretens und die Lauterkeit der Motive wird
weder anerkannt noch gewürdigt. Im übrigen ist die Androhung des
Ausschlusses bzw. ein möglicher Ausschluß unverhältnismäßig. Ist
nach Ziffer 3 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften über Erziehungs-
und Ordnungsmaßnahmen davon auszugehen, daß dann, wenn ein nicht
mehr schulpflichtiger Schüler im Verlauf von sechs Mpnaten an mehr
als 14 Schultagen dem Unterricht ganz oder stundenweise unentschuldigt
fernbleibt, der Ausschluß von der besuchten Schule anzuordnen, doch
ist zweifelhaft, ob diese Regelung mit dem Sinngehalt von Paragraph
55 des Schulgesetzes in Einklang steht. Das Schulgesetz selbst sieht
bei den Erziehungsmaßnahmen eine Staffel vor, wobei sich der "Strafrahmen"
an dem bisherigen schulischen Verhalten zu orientieren hat. Insoweit
gehen die Ausführungsvorschriften an dem am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
und Schwere des Vorwurfs orientierten Gesetz vorbei und schaffen
eine über das Gesetz hinausgehende Benachteilung. Soweit in den
Ausführungsvorschriften darauf abgestellt wird, daß von der Maßnahme
abgesehen werden kann, wenn der Schüler künftig am Unterricht teilnehmen
wird oder besondere pädagogische Gründe dies rechtfertigen, wird
durch das darin zum Ausdruck gebrachte Wohlverhalten der in Art.
19 GG garantierte Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes
ausgehöhlt. Aus der Sicht des Schülers stellt sich die Ablehnung
der Befreiung vom Chemieunterricht als belastender Verwaltungsakt
dar. In der Regel kommt dem Widerspruch gegen einen belastenden
Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung zu. Dies gilt aber dann nicht,
wenn - obgleich gegen die Ablehnung Widerspruch eingelegt wurde
- der Verbleib an der Schule nur dann gesichert wird, wenn der Widerspruchsführer
entgegen seiner eigenen Überzeugung am Chemieunterricht teilnimmt.
Der Grundsatz auf effektiven Rechtschutz gem. Art. 19 GG stellt
nicht nur ein Verfahrensgrundrecht dar, sondern soll tatsächlich
effektiven Rechtschutz gewähren. Dies ist dann nicht gegeben, wenn
vor der Entscheidung das erzwungene Wohlverhalten steht.
Mit freundlichen Grüßen
Brückner, Rechtsanwalt
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