Kommen alle zu-recht?
Regeln in Summerhill und Sands
Mit Summerhill verbinden viele die Abwesenheit von Regeln und folglich
chaotische Verhältnisse. Das hat sicher etwas mit dem Titel des übersetzten
Buches von A. S. Neill zu tun: Aus dem Original Summerhill, A Radical
Approach to Child Rearing" wurde Theorie und Praxis der antiautoritären
Erziehung. Das Beispiel Summerhill." Und es hat etwas damit zu tun,
was Leute unter diesem Kauderwelsch verstanden und daraus gemacht haben:
nämlich Kinder sollen machen können, was sie wollen.
Auch Neill selbst wurde offenbar nicht selten mißverstanden mit
seiner Vorstellung, Kinder selbstbestimmt und frei aufwachsen zu lassen.
In dem Buch beschreibt er eine Situation, in der eine Mutter ihr Kind
als besonders Neill`sch" preist, das gerade Neills Konzertflügel
mit Dreckschuhen besteigt. Er setzt dagegen, daß es in Summerhill
zwar um Freiheit, aber nicht um Zügellosigkeit" (licence")
geht. Durch die eigene Freiheit dürfen nicht die Rechte anderer eingeschränkt
werden.
Schülerschuhe in Schülerschule
In Summerhill gibt es deshalb selbstverständlich Regeln, und zwar
ausgesprochen viele. Zur Zeit unseres Besuches waren es 247 sogenannte
Schulgesetze. Sie sind schriftlich fixiert, hängen _ für jeden
jederzeit nachlesbar _ am schwarzen Brett des Versammlungssaales und betreffen
alle Bereiche des gemeinsamen Lebens. Wie die allermeisten Entscheidungen
werden auch die Entscheidungen über die gültigen Gesetze durch
Mehrheitsbeschluß im wöchentlichen Meeting*, bei dem jeder
Schüler und jeder Erwachsene eine Stimme hat, getroffen. Auf diesem
Wege können Gesetze, die sich nicht bewährt haben, auch wieder
aufgehoben oder verändert werden, was nach Aussage von Schülern
und Lehrern auch häufig passiert. Die Lehrer können dabei ohne
weiteres von den Schülern überstimmt werden. Trotzdem fürchten
sie sich nicht. Sie können darauf vertrauen, daß Schüler
in einer freiheitlichen, demokratischen Umgebung ihre Macht nicht mißbrauchen
müssen, sondern die Schulgesetze als Möglichkeit verstehen,
selbst Verantwortung für das eigene Leben und für ein störungsfreies
Zusammensein in der Gemeinschaft zu übernehmen. Und es funktioniert
ganz offensichtlich seit fast 80 Jahren.
Wir wurden also nicht mit dem Fehlen von Regeln konfrontiert. Uns hat
_ trotz der Begeisterung für die Art der Selbstregulierung und trotz
der Überzeugung, daß Regelungen und Verabredungen im Zusammenleben
von Menschen unverzichtbar sind _ eher die Vielzahl und Differenziertheit
der Schulgesetze und auch die Tatsache, daß ihre Nichteinhaltung
vielfältige Geld- und Arbeitsstrafen nach sich zieht, befremdet.
Es drängte sich die Frage auf, ob es tatsächlich so viele Regeln
geben muß oder ob oft nicht eher nach gesundem Menschenverstand"
und den individuellen Bedürfnissen der jeweils Beteiligten entschieden
werden kann, nicht zuletzt, weil ja bei Mehrheitsentscheidungen die Bedürfnisse
Einzelner bzw. der Minderheit nicht berücksichtigt werden.
Oder ob Selbstverständlichkeiten wirklich per Gesetz geregelt werden
müssen. Schulgesetze wie Nr. 109 Man darf nicht über die
Tische im Essenraum laufen", Nr. 160 Man darf keine Steine
auf Leute werfen" oder Nr. 124 Man darf nicht mit Keksen im
Essenraum rumwerfen" könnten den Effekt haben, daß dann
alle anderen Fälle auch geregelt werden müssen, weil sonst Schüler
über die Tische im Büro laufen, Leute mit Stöcken bewerfen
oder die Kekse eben durch den Flur schmeißen.
Und es kamen Fragen auf zu der Grundhaltung, die hinter manchen Gesetzen
steckt, vor allem hinter denen, die die Zu-Bett-geh-Zeiten regeln. In
Summerhill sind die Zeiten für Schlafengehen und Aufstehen für
alle Altersgruppen differenziert und strikt festgelegt und werden von
den sogenannten Beddie Officers* überwacht. Über diese Gesetze
diskutierten wir am ausgiebigsten mit den Lehrern und Schülern, weil
nach unserer Meinung das Bestimmen über die Schlafenszeiten der Kinder
eine unzulässige Bevormundung ist.
All diese Fragen stellten sich noch heftiger beim Vergleich von Summerhill
mit der Sands-Schule in Ashburton, in der das Leben ohne ein solches Regelwerk
und die dazugehörigen Strafen, sondern nur mit einigen mündlich
getroffenen Verabredungen hervorragend und in sehr freundlicher und angenehmer
Atmosphäre funktioniert.
Beim drüber Reden und Nachdenken ergaben sich einige Überlegungen,
die sich möglicherweise als Antwort eignen, warum die Summerhillians*
sich genau diese Schulgesetze gegeben haben:
· Ungefähr 25% der Gesetze betreffen Angelegenheiten, die sich
aus dem Internatsleben ergeben. Fast alle Schüler und auch viele
Lehrer verbringen ihre gesamte Zeit während der Terms (Schultrimester)*
zusammen. Dabei muß jeder zu seinem Recht kommen. Und keiner darf
gefährdet werden. Daraus entsteht natürlich ein größerer
Regelbedarf, als wenn _ wie in Sands _ alle am Nachmittag wieder nach
Hause fahren.
· Die Schüler bewegen sich frei auf dem Schulgelände. Es
gibt viele Zeiten und Orte ohne unmittelbare Anwesenheit von Erwachsenen,
die zur Not vermitteln oder eingreifen könnten. Das Gesetzeswerk
schafft hier Orientierung.
· Zahlreiche Regeln legen fest, was unterschiedliche Altersgruppen
dürfen.
· Die Altersspanne der Schüler in Summerhill ist im Gegensatz
zu Sands sehr groß. Auch sehr junge Kinder sind dort, die möglicherweise
die Folgen bestimmter Handlungen noch nicht übersehen und für
die eine klare Regel eine gute Hilfe sein kann.
· Vor allem: Das Leben muß praktisch funktionieren. Es ist
in einer Gemeinschaft von 70 bis 80 Menschen nicht möglich _ wie
es eigentlich wünschenswert wäre und wie es in der Familie oder
in kleineren Gruppen eher möglich ist _ alles jederzeit mit jedem
Einzelnen neu zu verhandeln. Einer der Lehrer betonte in den Gesprächen
mit uns, daß das Gesetzeswerk keine Frage der Philosophie oder der
Pädagogik, sondern lediglich eine der praktischen Bewältigung
des Alltags ist.
Letzteres wurde uns von einigen Schülern und Lehrern noch einmal
am Beispiel der von uns so angefochtene Zu-Bett-geh- und Nachtruheregelungen
deutlich gemacht: Sie sollen dazu dienen, andere nicht beim Schlafen zu
stören und zu einer ausreichenden Menge Schlaf zu verhelfen. Denn
früh muß aufgestanden werden, auch dafür gibt es Regeln,
keiner darf also beliebig lange im Bett bleiben und schlafen. Der Hintergrund
ist, förderliche Rahmenbedingungen für die _ freiwillige _ Teilnahme
am Unterricht zu schaffen. Wir konnten allerdings bis zum Schluß
nicht glauben, daß die Schüler, die selbstverantwortlich über
ihre Teilnahme am Unterricht entscheiden, nicht auch in der Lage seien
sollten, für ihren Schlaf selbst Verantwortung übernehmen zu
können. Anscheinend gibt es in Summerhill die Erfahrung, daß
das Schlafproblem" nur mit diesen Gesetzen praktikabel zu lösen
ist. Vielleicht haben es die Summerhillians aber auch bloß noch
nicht wirklich ohne probiert...
Aber unabhängig von unseren eher kleinen Zweifeln am Rande bleibt
bemerkenswert und wichtig, daß funktionierende demokratische Schulmodelle
existieren, in denen die Schüler gleiches Stimmrecht wie die Erwachsenen
bei der Festlegung von Schulgesetzen haben. Und daß es offensichtlich,
siehe Summerhill und Sands, verschiedene Wege gibt, das Leben in einer
solchen Schule zur allgemeinen Zufriedenheit zu organisieren.